Das Flüstern der Toten (German Edition)
hatte. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, hatte es mir sogar mehrmals das Leben gerettet. Zum Beispiel als ich als Kind beinahe von einem Sittenstrolch auf Hafturlaub entführt worden wäre. Oder als Owen Vaughn mich in der Highschool mit dem Suburban seines Vaters über den Haufen fahren wollte. Oder als mir im College jemand nachstieg und schließlich auf mich losging. Damals hatte ich die Bedrohung zunächst nicht sonderlich ernst genommen. Erst in dem Moment, als es fast schon zu spät war, wurde mir klar, dass mein Leben in Gefahr gewesen war.
Sie mögen denken, ich hätte größere Dankbarkeit an den Tag legen sollen, aber das Wesen hatte mir ja nicht bloß das Leben gerettet. Es ging darum, wie es das getan hatte. Die Fähigkeit, das Rückenmark eines Menschen zu durchtrennen, ohne dabei sichtbare Spuren zu hinterlassen, war schon ein wenig beunruhigend.
Und in der Highschool, während andere Teenager verzweifelt herauszufinden versuchen, wer sie eigentlich sind und welchen Platz sie in der Welt einnehmen wollen, zeigte mir das Wesen, wer ich war. Es flüsterte mir die Rolle, die ich im Leben spielen sollte, ins Ohr, während ich im Duschraum der Mädchen Lipgloss auftrug, flüsterte nie gehörte Worte, die die Luft stickig machten und darauf warteten, dass ich sie einatmete, dass ich akzeptierte, wer ich war oder was einmal aus mir werden würde. Während ich im Spiegel die Mädchen um mich herumschwirren sah, sah ich in Wahrheit nur ihn , wie er mich überragte, eine riesige, in einem Mantel gehüllte Gestalt, die auf mich hinabfuhr wie ein erstickendes Vakuum.
Nachdem die anderen Mädchen und er verschwunden waren, stand ich noch gut fünfzehn Minuten da, kaum atmend und unfähig, mich zu bewegen, bis Mrs Worthy mich beim Blaumachen erwischte und zum Direktor schickte.
Die Erscheinung war vor allem düster und unheimlich und tauchte immer dann in meinem Leben auf, wenn es darum ging, mir ein paar saftige Leckerbissen jenseitiger Weisheit mit auf den Weg zu geben – und mich nebenbei zu Tode zu erschrecken. Nach ihrem Besuch war ich jedes Mal ein schlotterndes Häufchen Elend. Wenigstens war ich eine helle, strahlende Schnitterin. Er dagegen war finster und gefährlich, der Tod schien ihn zu umwallen wie Nebel einen Block Trockeneis. Als ich noch klein war, beschloss ich ihm einen ganz normalen Namen zu geben, der einem keine Angst machte, aber Fluffy schien irgendwie nicht zu ihm zu passen. Schließlich nannte ich ihn »den großen Bösen«.
»Ms Davidson«, sagte Elizabeth neben mir.
Ich blinzelte und blickte mich um. »Haben Sie jemanden gesehen?«
Sie musterte ihrerseits die Umgebung. »Ich glaube nicht.«
»Einen Schemen? Irgendwie düster und … schemenhaft?«
»Äh, nein.«
»Oh, gut, tut mir leid. Ist was?«
»Ich kann nicht zulassen, dass meine Nichten und Neffen nach dem Aufwachen meine Leiche sehen. Ich liege genau unter ihren Fenstern.«
Daran hatte ich auch schon gedacht. »Sie haben recht. Vielleicht sollten wir Ihre Schwester informieren.«
Sie nickte traurig. Ich rief Garrett, und wir kamen überein, dass ich und der Polizeibeamte an der Haustür klingeln und Elizabeths Schwester die Nachricht überbringen sollten. Vielleicht hatte Elizabeth ja eine Idee, was ich sagen könnte. Ihre Anwesenheit machte es uns allen womöglich leichter. Zumindest dachte ich mir das so.
Eine Stunde später saß ich im SUV meines Onkels und atmete in eine Papiertüte.
»Du hättest auf mich warten sollen«, sagte er äußerst hilfreich.
Nie wieder! Offenbar hatten wir es hier mit Geschwistern zu tun, die einander wirklich mochten. Wer hätte das gedacht? Die Frau klappte in meinen Armen zusammen. Was sie am meisten aus der Fassung brachte, war die Tatsache, dass Elizabeth die ganze Nacht vor ihrem Haus gelegen und sie nichts davon gewusst hatte. Vielleicht hätte ich den Teil besser weggelassen. Die Frau klammerte sich an meine Schultern und bohrte mir ihre Fingernägel in die Haut, während sie ungläubig ihre Morgenfrisur schüttelte, die halb nach Discoqueen, halb nach Crackjunkie aussah. Schließlich sackte sie schluchzend auf dem Fußboden zusammen. Höchstwahrscheinlich ein Nervenzusammenbruch.
Richtig schlimm wurde es erst, als ich schluchzend neben ihr auf dem Fußboden zusammensackte. Mit Toten kam ich klar. Die wurden meistens nicht hysterisch. Aber hier hatte ich mit den Hinterbliebenen zu tun. Mit dem schwierigen Part. Wir lagen uns lange in den Armen, bis Onkel Bob auf der Szene
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