Das Flüstern der Toten (German Edition)
»lohnt es sich für kein Schulprojekt zu sterben, nicht mal, wenn man dafür zehn Punkte extra kassiert.«
Gemma wandte sich mir zu, senkte Dads Kamera und schob sich eine blonde Locke hinters Ohr. Die mitternächtliche Dezemberkälte gab ihren blauen Augen einen metallischen Glanz. »Wenn ich diesen Bonus nicht kriege«, gab sie zurück, ihr Atem bildete Nebelwölkchen in der eiskalten Luft, »kann ich den frühen Abschluss vergessen.«
»Weiß ich«, sagte ich, ohne verärgert klingen zu wollen, »aber ernsthaft, wenn ich zwei Wochen vor Weihnachten draufgehe, komme ich wieder und spuke bei dir. Für den Rest deines Lebens. Und du kannst mir glauben, ich weiß, wie man das macht.«
Gemma zuckte unbekümmert die Achseln und beschäftigte sich wieder mit den Bildern von Albuquerque im Autofokus. Die Beleuchtung hob Bürgersteige und Gebäude hervor und warf unheimliche Schatten über die verwaisten Straßen. Für die Abschlussprüfung in Gemeinschaftskunde hatte Gemma sich für ein Video entschieden. Sie wollte das Leben auf den Straßen der Southside festhalten. Problemkinder auf der Suche nach Anerkennung. Drogensüchtige auf der Suche nach dem nächsten Schuss. Obdachlose auf der Suche nach Stütze und einem Dach über dem Kopf.
Bis jetzt hatte sie allerdings bloß einen Skateboarder aufgenommen, der über die Central fegte, und eine Prostituierte, die sich im Macho Taco einen Softdrink bestellte.
Unsere Sperrstunde war längst um, und wir warteten immer noch, schmiegten uns im Schatten einer aufgelassenen Schule aneinander, bibberten und gaben uns alle Mühe, möglichst unsichtbar zu wirken. Hin und wieder wurden wir von Bandenmitgliedern behelligt, die wissen wollten, was wir hier zu suchen hatten. Ein paar Mal kamen wir nur knapp davon, und ich handelte mir einige Telefonnummern ein, doch alles in allem verlief der Abend eher ruhig. Was wahrscheinlich daran lag, dass es draußen arschkalt war.
Plötzlich fiel mir ein Junge auf, der sich unter die Schultreppe kauerte. Er trug ein T-Shirt, das noch ein paar weiße Stellen hatte, und schmuddelige Jeans. Und obwohl er nicht mal eine Jacke anhatte, war ihm offenbar nicht kalt. Denn den Verstorbenen macht das Wetter nichts mehr aus.
»Hey, du da«, rief ich und näherte mich ihm vorsichtig.
Er blickte auf, das schiere Entsetzen in seinem Milchgesicht. »Du kannst mich sehen?«
»Klar.«
»Aber keiner kann mich sehen.«
»Tja, ich schon. Ich heiße Charley Davidson.«
»Wie das Motorrad?«
»So ähnlich«, antwortete ich grinsend.
»Warum bist du so hell?«, fragte er blinzelnd.
»Ich bin der Schnitter. Aber keine Sorge, das ist nichts Böses, es hört sich nur so an.«
Trotzdem kroch Angst in seine Augen. »Ich will nicht in die Hölle.«
»Wieso Hölle?«, gab ich zurück, setzte mich neben ihn und ignorierte, dass Gemma genervt aufstöhnte, weil ich mal wieder meine Selbstgespräche führte. »Glaub mir, Kleiner, wenn sich der Leibhaftige mit dir unterhalten wollte, wärst du jetzt nicht hier.«
Die Erleichterung ließ seine ausdrucksstarken Augen milder blicken.
»Und, hängst du hier nur so rum?«, wollte ich wissen.
Ich brauchte nicht lange, um herauszufinden, dass der Junge Angel hieß, dreizehn Jahre alt und Bandenmitglied gewesen war. Bei einer Schießerei aus fahrenden Autos war er kürzlich von einer Neunmillimeterkugel in die Brust getroffen worden. Er hatte am Lenkrad gesessen. Entschuldigt war er, meiner Meinung nach, als ich erfuhr, dass er, bis ihm die Kugeln um die Ohren sausten, keine Ahnung gehabt hatte, dass sein Kumpel die Schlampe, die sich in ihr Revier gewagt hatte, kaltmachen wollte. Bei dem Versuch, seinen Kumpel aufzuhalten, fuhr Angel den Wagen seiner Mutter zu Schrott, während er mit seinem Kumpel um die Pistole rang. Schließlich starb an dem Abend nur ein Mensch. Nämlich er.
Während ich Angel über die Nützlichkeit von kugelsicheren Westen aufklärte, fiel mein Blick auf eine Szene, die sich in einem fernen Fenster abspielte. Ich trat aus dem Schatten, um genauer hinzuschauen. Ein grelles gelbes Licht erleuchtete die Küche einer kleinen Wohnung, aber das war’s nicht, was meine Aufmerksamkeit erregt hatte. Zuerst dachte ich noch an eine optische Täuschung. Ich blinzelte und strengte die Augen an, dann holte ich tief Luft, und das Entsetzen kroch mir den Rücken hinauf.
»Gemma«, flüsterte ich.
Auf Gemmas lebhaftes »Was?« folgte ein Ächzen. Sie hatte es auch entdeckt.
Ein Kerl im verdreckten T-Shirt
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