Das Flüstern der Toten (German Edition)
sehen.«
Der Schatten rührte sich, löste sich auf, verschwand und tauchte im selben Moment dicht vor mir auf. Diesmal war es an mir, den Rückzug anzutreten. Ich stolperte rückwärts, als zunächst eine lange, dünne Rauchfahne aufstieg und sich im nächsten Moment neben meinem Kopf ein Arm an der Wand abstützte. Ein langer, schlanker Arm, der in eine stattliche Schulter mündete.
Die Anwälte ächzten, als das Wesen vor ihnen materialisierte, der Rauch sich zu Fleisch verfestigte und Moleküle sich verbanden, um einen festen Muskel nach dem anderen zu formen. Mein Blick löste sich nicht von dem Arm, glitt von der Hand neben mir – einer schwieligen und trotzdem schönen Hand – zu der langen sehnigen Wölbung eines stahlharten Unterarms. Unterhalb des Ellbogens verschwand er in einen aufgerollten Ärmel von merkwürdig greller Farbe, darüber spannte ein Oberarmmuskel den dicken Stoff und kündete von der darunter verborgenen Kraft. Dann wanderte mein Blick zu einer mächtigen, unnachgiebigen Schulter.
Noch ehe ich das Gesicht erkennen konnte, beugte sich die nun sichtbare und höchst lebendig wirkende Gestalt vor, presste seinen warmen Leib gegen mich und flüsterte mir etwas ins Ohr. Es kam mir so nah, dass ich nur die starke, seit mindestens zwei Tagen unrasierte Kinnlinie und dunkles Haar sah, das dringend geschnitten werden musste.
Der Mund des Mannes strich über mein Ohr und jagte Schauer über meinen Rücken. »Dutch«, hauchte er, und ich schmolz dahin.
Das war die Chance, die Gelegenheit, ihn zu fragen, ob er der war, für den ich ihn hielt – für den ich ihn halten wollte. Stattdessen trudelte ich in meine Traumwelt, in der nichts so lief, wie es laufen sollte. Als hätten sie einen eigenen Willen, hoben sich meine Hände seiner Brust entgegen. Meine Beine wurden zu Pudding. Mein Mund wollte nur noch ihn. Seinen Geschmack. Die Berührung seiner Haut. Er roch nach Gewitterregen, erdig, elektrisch.
Meine Faust zerknitterte sein Hemd – ob ich ihn wegstoßen oder an mich ziehen wollte, wusste ich nicht genau. Warum konnte ich ihn nicht ansehen? Warum konnte ich nicht einfach zur Seite treten und ihn anschauen?
Dann bedeckte sein Mund meine Lippen, und mir kam der Sinn für die Wirklichkeit abhanden. Meine Welt nahm seine Gestalt an, wurde eins mit seinem Körper, seinem Mund, seinen Händen, die über mich strichen und die Hügel und Täler meines Leibes erkundeten, der zu seinem Trabanten wurde. Zu seinem Satelliten, der nicht anders konnte, als unter dem Zwang seiner Anziehungskraft in seine Umlaufbahn einzuschwenken.
Der Kuss wurde intensiver, dringlicher, mein Körper reagierte mit zitternder Begierde. Er stöhnte und drängte sich weiter an mich, seine Zunge schob sich zwischen meine Lippen, nicht bloß kostend, sondern trinkend, während seine Seele mit meiner verschmolz.
Er löste eine meiner Hände von seinem Hemd, führte sie an seiner Hose hinab zu seiner Erektion. Ich holte scharf Luft, atmete die Hitze ein, die von ihm ausging. Ich spürte seine Hand zwischen meinen Beinen. In meinem Bauch sammelte sich flüssiges Feuer. Ich wollte ihn, wollte ihn auf mir, um mich und in mir. Ich konnte an nichts anderes mehr denken als an die vollkommene Sinnlichkeit seiner Präsenz.
In meiner Begierde nahm ich von meiner Umgebung nichts wahr, bis ich aus der Ferne meinen Namen hörte und der Nebel sich zu lichten begann.
»Charley?«
Ich fiel stolpernd aus meinem Traum und kam schlagartig zu mir. Alle im Raum starrten mich mit offenem Mund an. In der Tür stand Onkel Bob und musterte mich mit gerunzelter Stirn. Auch Garrett blickte mich unverwandt an, geradezu aufgewühlt. Dann drehte er sich um, marschierte hinaus und nickte im Vorbeigehen brüsk Onkel Bob zu.
In dem Moment ging mir auf, dass es vorbei war. Er war verschwunden. Da mich meine Beine nicht mehr tragen wollten, ließ ich mich kraftlos zu Boden sinken und schmorte in meiner Verwunderung.
»Warst du gerade irgendwie besessen?«, hauchte Cookie nach einiger Zeit ehrfürchtig. »Denn, ich sag dir eins, Schatz, wenn das Besessenheit war, verkaufe ich dafür mein Seelenheil.«
6
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Während ich nichts lieber getan hätte, als die anwesenden Verstorbenen nach Reyes auszufragen – Hatten sie ihn deutlich sehen können? Welche Farbe hatten seine Augen? Wirkte er, tja, weiß nicht, tot? – , bestand Onkel Bob darauf, über den anstehenden Fall zu sprechen. Dabei hing meine
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