Das Flüstern der Toten (German Edition)
aber hell darin, trotz der dunklen Büromöbel und der Berge von Papierkram auf jeder waagerechten Fläche. Neil war auf der Highschool ein überdurchschnittlicher Footballspieler gewesen und hatte sich die Stämmigkeit seiner Jugend bewahrt, wenn sie auch nicht mehr so proportional verteilt war. Doch abgesehen von einer beginnenden Glatze sah er recht gut aus.
Er stand auf und kam um seinen Schreibtisch herum. »Charlotte Davidson«, sagte er ziemlich platt.
Als ich ihm händeschüttelnd ins Gesicht sah, musste ich den Kopf in den Nacken legen. »Neil. Du siehst großartig aus«, meinte ich zum Auftakt und fragte mich im selben Moment, ob man so etwas zu jemandem, den man eigentlich kaum kannte, überhaupt sagen konnte.
»Du siehst … « Er spannte in einer hilflosen Geste die Arme aus.
Ich wusste nicht recht, ob ich beleidigt sein sollte. Vielleicht lag es an den Blutergüssen, obwohl ich mir alle Mühe gegeben hatte, sie zu übertünchen. Oder waren es die Haare? Wahrscheinlich die Haare.
»Du siehst aufsehenerregend aus«, verkündete er schließlich.
Oh. Damit kam ich klar. »Danke.«
»Bitte.« Er wies schwungvoll auf einen Sessel und nahm selbst hinter seinem Schreibtisch Platz. »Ich muss zugeben, ich bin etwas überrascht, dich zu sehen.«
Ich setzte ein unschuldiges Lächeln auf und schaltete auf »lässig und sexy« um. »Nun, ich habe ein paar Fragen zu einem deiner Insassen hier und dachte, ich fange am besten ganz oben an und arbeite mich dann weiter nach unten durch.« Die unterschwellige Anzüglichkeit meiner Worte entging mir keineswegs.
Fast wurde er rot. »Genau genommen stehe ich nicht ganz oben, aber es freut mich, dass du so viel von mir hältst.«
Ich gluckste angemessen und zückte meinen Notizblock.
»Luann hat mir erzählt, du bist unter die Privatdetektive gegangen.«
Luann war seine Sekretärin. »Ja, bin ich, momentan arbeite ich für das APD an einem DOA mit folgenden FTA.« Ich warf mit Abkürzungen nur so um mich, um möglichst ausgebufft zu wirken.
Er wölbte die Brauen. Augenscheinlich hatte ich ihn beeindruckt. Was mir auf lange Sicht helfen würde. »Und wegen dieses Falls bist du hier?«
»Das hängt alles zusammen«, log ich ihm die Hucke voll. »Hier bin ich wegen eines Mannes, der vor zehn Jahren wegen Mordes verknackt wurde. Kannst du mir etwas über einen«, ich warf einen betont desinteressierten Blick auf meinen Notizblock, »Reyes Farrow sagen? Ich hoffte, ihn in einer Sache befragen zu können, du weißt schon, im Zusammenhang mit meinem Fall, der … «
Ich verlor den Faden, weil ich Neil blass werden sah. Er griff nach seinem Telefon und drückte eine Taste. »Luann, können Sie bitte mal kommen?«
Mist, steckte ich etwa jetzt schon in der Klemme? Wollte er mich vor die Tür setzen? Klar, ich hätte bestimmt noch mehr Abkürzungen verwenden sollen, doch mir fielen keine mehr ein. NAACP zum Beispiel. Warum fiel mir die Vereinigung zur Förderung Farbiger nicht ein? Damit kann man jedem eine Scheißangst einflößen.
»Ja, Sir?«, fragte Luann in der offenen Tür.
»Würden Sie mir bitte die Akte Reyes Farrow bringen?«
Puh .
Doch Luann zögerte. »Sir?«
»Schon gut, Luann. Bringen Sie mir einfach den Vorgang.«
Sie sah mich an, dann wieder ihn. »Natürlich, sofort, Sir.«
Sie war gut. Cookie sagte nie Sofort, Ma’am – darüber würden wir noch zu reden haben. Außerdem war Luanns Reaktion nicht weniger aufschlussreich als Neils. Sie war eine äußerst feminine Erscheinung. Unter ihrem Kostüm prickelten Sprudelbäder und Champagner. Trotzdem kehrte sie sofort die Beschützerin raus. Beinahe grimmig. Obwohl ihr Grimm nicht gegen mich gerichtet schien.
»Geht es um den Zwischenfall?«, wollte Neil wissen. »Ich dachte, Reyes hätte keine Verwandten.«
»Zwischenfall?«, fragte ich zurück, als Luann den Vorgang brachte und ihm reichte. Sie ging, ohne mir einen zweiten Blick zu gönnen. War Reyes etwas zugestoßen? Womöglich war er tatsächlich tot? Dann wäre er deshalb plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht.
Neil klappte den Aktenordner auf und studierte den Inhalt. »Richtig. Keine lebenden Verwandten. Wer hat dich engagiert?« Er fixierte mich, und die Rebellin in mir übernahm das Steuer.
»Diese Information ist streng vertraulich, Neil, sonst würde ich den DA hinzuziehen müssen.«
»Den Bezirksstaatsanwalt? Der weiß längst Bescheid, das versichere ich dir.«
Uupsie. Tja, so kam ich nicht weiter. Um Himmels willen. Ich holte
Weitere Kostenlose Bücher