Das Flüstern der Toten (German Edition)
an Louise. Louise nickte. »Sie hat erzählt, die beiden kamen ins Büro, und Mr Stone geriet ins Schleudern, weil der Direx meinte, Reyes hätte in allen Tests hundert Punkte erzielt, und der Vorwurf sei unbegründet.«
»Hat er mal einen Intelligenztest absolviert?«, erkundigte ich mich.
»Ja«, antwortete Louise. »Der Direx veranlasste einen. Darauf tauchten drei Typen von irgendeiner Erziehungsbehörde auf und wollten mit ihm reden, doch da war Reyes’ Familie bereits weggezogen.«
Ja, davon war ich überzeugt. Reyes’ Vater hatte sie ständig auf Trab gehalten und die Behörden jedes Mal abgehängt.
»Ich kann noch immer nicht glauben, dass er seinen Vater umgebracht hat«, bemerkte Chrystal.
»Hat er auch nicht«, versicherte ich, während ich mich fragte, ob meine Überzeugung auf Wunschdenken beruhte oder ob ich dafür gute Gründe anführen konnte.
Sie sahen mich verblüfft an. Wahrscheinlich hätte ich besser die Klappe gehalten, aber ich wollte die beiden auf meiner Seite wissen. Auf Reyes’ Seite. Ich erzählte ihnen von dem Abend unserer ersten Begegnung, von seinem Alten, der ihn besinnungslos prügelte, und von seiner Schwester, die er im Haus zurückgelassen hatte.
Als unser Essen serviert wurde, hielt ich kurz inne und wartete, bis die Bedienung verschwunden war, dann sprach ich weiter. »Deshalb sind wir hier, ich muss seine Schwester auftreiben.« Dann schilderte ich ihnen, was sich im Gefängnis zugetragen hatte, und eröffnete ihnen, dass er im Koma lag, doch keine der beiden konnte sich an das Mädchen erinnern. »Aber sie ist die Einzige, die den Staat davon abhalten kann, die lebensverlängernden Maßnahmen einzustellen. Kennen Sie irgendwen, der womöglich mit ihr befreundet war?«
»Ich telefoniere mal rum«, versprach Louise.
»Ja, ich auch, vielleicht graben wir ja irgendwas aus. Wie viel Zeit bleibt Ihnen denn noch?«
Ich sah auf die Uhr. »Siebenunddreißig Stunden.«
Auf dem Heimweg rief ich Cookie an und beauftragte sie, einen gewissen Amador Sanchez für mich ausfindig zu machen. Er schien der Einzige zu sein, der etwas Wesentliches über Reyes wusste. Es war schon spät, aber Cookie war bestimmt nicht abgeneigt, einen heißblütigen jungen Mann für mich aufzuspüren. Man musste ihr nur einen Namen geben, schon verbiss sie sich in die Sache wie ein Pitbull in einen Knochen.
Ich hatte gerade aufgelegt, da klingelte mein Handy. Es war Chrystal. Sie und Louise erinnerten sich, dass Chrystals Cousine, die damals die achte Klasse besuchte, früher mit einem Mädchen herumhing, das sich während der Mittagspause gelegentlich Reyes anschloss. Das war nicht viel, aber mehr als vor fünf Minuten. Sie hatten die Cousine zu erreichen versucht, bekamen sie aber nicht an die Strippe, also hinterließen sie eine Nachricht mit meinem Namen und meiner Telefonnummer.
Nachdem ich ihre Neuigkeit verdaut und ihnen viele Tausend Male gedankt hatte, rannte ich in einen Supermarkt, um mich mit Grundnahrungsmitteln auszustatten: Kaffee, Tortillachips und Avocados für Guacamole.
Als ich aus meinem Jeep kletterte, hörte ich meinen Namen, fuhr herum und erblickte Julio Ontiveros. Er war größer, als es auf dem Polizeirevier den Anschein gehabt hatte.
Ich schloss die Tür und ging um den Wagen herum, um meine Einkaufstüten einzusammeln. »Ohne Handschellen sehen Sie besser aus«, sagte ich über die Schulter.
Er folgte mir. »Sie sehen ohne Handschellen auch besser aus.«
Oh-oh . Zeit, einen Annäherungsversuch abzuwehren. Ich drehte mich zu ihm um. Besser, ich brachte es sofort hinter mich.
»Der Orden, den Ihr Bruder während Desert Storm bekommen hat, liegt im Schmuckkasten Ihrer Tante.«
Damit enttäuschte ich ihn sichtlich. »Blödsinn, da habe ich nachgesehen.« Er kam näher. In seinen Augen funkelte Zorn und die Furcht, der Gelackmeierte zu sein.
»Sie hat vorausgesehen, dass Sie das sagen würden«, gab ich zurück, während ich hinten aufmachte, um meine Tüten zu verstauen. »Nicht in dem Schmuckkasten, sondern in dem, den sie im Keller versteckt hat. Hinter dem alten Gefrierschrank, der’s nicht mehr tut.«
Er hielt inne und überlegte kurz. »Von einem zweiten Schmuckkasten hatte ich keine Ahnung.«
»Davon weiß niemand. Deshalb hat sie ihn ja versteckt.« Ich nahm zwei Einkaufstüten in eine Hand und bückte mich nach der dritten. »Die Diamanten sind auch da drin.«
Diese Neuigkeit warf ihn erst recht um. »Sie besaß Diamanten?«, fragte er.
»Ja, bloß ein
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