Das Fluestern des Todes
erzeugte ein Konvolut aus Gesichtern, Namen und Erinnerungen, die sich im unwirtlichen Ödland seines Bewusstseins umgehend wieder auflösten.
»Nicht mehr. Schon lange nicht mehr. Mir liegen meine Bücher am Herzen. Und meine Ruhe.«
»Sie klingen wie ein alter Mann.« Er lächelte, sagte aber nichts. »Haben Sie etwas zum Lesen dabei?«, fragte sie schließlich.
»Klar. Die Pest zu London von Daniel Defoe. Wollte ich eigentlich als Nächstes lesen, aber du kannst es gerne haben. Und ich hab auch noch das Nibelungenlied – du solltest mal einen Versuch wagen, es ist eine interessante Geschichte.«
Sie schaute wenig überzeugt und lachte unsicher. »Na gut, ich versuch’s mal.« Er lehnte sich zufrieden zurück. Es passierte nicht oft, dass er Bücher empfehlen konnte – und noch seltener, dass jemand seine Empfehlung aufgriff. Vielleicht würde sie es ja sogar durchlesen, bevor sich ihre Wege trennten, und es mit ihm diskutieren wollen.
Die zwei saßen sich gegenüber und lasen, während Chris noch immer schlief. Sie sahen wie stinknormale Reisende aus. Vielleicht glaubte Ella das ja immer noch, wollte den Einschnitt in ihrem Leben nicht wahrhaben. Für Chris gab es vielleicht noch einen Weg zurück in die Normalität, aber Ellas Leben würde definitiv nicht mehr das Gleiche sein.
Lucas fand es auf seltsame Weise angemessen, über die drohende Ausbreitung der Pest und die ständig wachsende Zahl der Todesopfer zu lesen. Er hatte ein Talent dafür entwickelt, beim Lesen die Gegenwart völlig auszublenden – und doch tickte in seinem Hinterkopf eine Uhr, die ihn ständig daran erinnerte, dass die idyllische Ruhe nur allzu schnell beendet werden würde.
Eine halbe Stunde vor Ankunft in Mailand hörte er auf zu lesen, behielt die Augen aber auf dem Buch, um sich ein Gespräch zu ersparen. Chris war inzwischen aufgewacht und schaute ständig auf seine Uhr, während Ella noch immer las, langsam aber auch unruhig zu werden schien.
Auch Lucas fühlte sich zunehmend unwohl. Er wusste, dass er bald keine Ausreden mehr haben würde, dass er die Wahrheit nicht länger hinausschieben konnte. Fast wünschte er, auf dem Mailänder Bahnhof wieder in einen Hinterhalt zu geraten – nur um dadurch weiter vom Thema ablenken zu können.
Für einen Killer war es der ideale Ort, um sie noch einmal ins Visier zu nehmen, aber er war sich relativ sicher, hier keine Überraschungen zu erleben. Nach der Panne, die ihm heute Morgen unterlaufen war, blieb er ständig wachsam, als er sie zum nächsten Zug brachte. Bevor er sie im Abteil zurückließ, drückte er Chris seine Pistole in die Hand, gab aber die Anweisung, sie nur zu benutzen, falls sie ernsthaft in Gefahr gerieten. Dann sah er auf die Uhr und machte sich auf die Suche nach einer Telefonzelle, die weit genug von den verräterischen Geräuschen des Bahnhofs entfernt war.
Zunächst glaubte er, wieder auf dem Anrufbeantworter zu landen, doch beim vermutlich letzten Klingeln hob eine Frau ab. Er wusste, was das bedeutete. »Tut mir leid, da habe ich mich wohl verwählt. Ich wollte eigentlich Mark Hatto sprechen.«
Am anderen Ende der Leitung herrschte betretene Stille, bis die Frau sagte: »Nein, Sie haben schon die richtige Nummer. Ich bin Polizeibeamtin. Dürfte ich erfahren, wer Sie sind, Sir?«
»Natürlich. Ich bin Philip Hatto, Marks Cousin. Ist alles in Ordnung?«
Wieder ein betretenes Schweigen, das Lucas vermuten ließ, dass sie noch ziemlich unerfahren in ihrem Job war.
»Befinden Sie sich momentan in Gesellschaft, Mr. Hatto?«
»Meine Frau ist hier, aber was tut das denn zur Sache? Was ist passiert?« Es musste daran denken, was er heute Morgen Chris gefragt hatte – ob er denn keine Filme sehe? Er kannte die Rolle, die er zu spielen hatte, genau, er kannte das Drehbuch. Es war das gleiche Drehbuch, an das sich auch die Frau in ihrer Ausbildung bei den Rollenspielen gehalten hatte.
»Ich habe schlechte Nachrichten für Sie, Mr. Hatto. Wir wurden heute Morgen von Mr. Hattos Dienstpersonal alarmiert. Es tut mit leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass auf Ihren Cousin, seine Frau und ihren Sohn geschossen wurde. Wir konnten nichts mehr für sie tun.«
»Sie sind tot?«
»Ich fürchte ja.« Er legte auf. Es war genau so, wie er befürchtet hatte, aber emotional löste die Nachricht nichts in ihm aus. Es bedeutete ihm so viel wie das Wahlergebnis in einem Land, von dem er noch nie gehört hatte. Was ihm zu schaffen machte, war die Tatsache, dass er nun
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