Das Fluestern des Todes
Unten befand sich nur eine Person, und auf der würden schon bald die Schmeißfliegen sitzen. Lucas ging zur offen stehenden Ausgangstür, winkte ein Taxi heran und warf einen prüfenden Blick auf die Passanten, vor allem auf die Gäste des benachbarten Cafés.
Er ging wieder ins Treppenhaus und winkte sie herunter. Als die den Hotelausgang erreichten, stand der Taxifahrer mit offenem Kofferraum vor der Tür und wartete.
»Santa Maria Novella«, sagte Lucas. »Chris, verstau das Gepäck im Kofferraum.« Der Fahrer, der Chris beim Einladen half, wirkte verwirrt und schaute ein paarmal zu Ella, die sich hinter Lucas an der schattigen Hausfassade versteckte. »Chris setzt sich nach vorne, Ella hinter den Fahrer.« Als sie in die grelle Sonne hinaustraten, scannten Lucas’ Augen noch einmal die gesamte Umgebung ab – das Café, die Autos, Toreinfahrten, Passanten. Er konnte nichts Auffälliges feststellen. Als er im Taxi Platz genommen hatte, holte er die Pistole heraus und hielt sie griffbereit neben seinem Bein. Er beobachtete weiterhin den Verkehr und die Passanten, vor allem wenn das Taxi abbremsen oder anhalten musste. Seine Unruhe blieb dem Taxifahrer nicht verborgen: Ein paarmal sah er im Rückspiegel nach hinten, schaute aber immer schnell weg, wenn es zum Augenkontakt kam.
Niemand war ihnen gefolgt, und als sie den Bahnhof erreichten, entspannte sich Lucas ein wenig – auch wenn ihm bewusst war, dass ein Bahnhof immer ein neuralgischer Punkt war. Er ging zügig mit ihnen auf den Bahnsteig und ließ die Jalousien herunter, kaum dass sie ihr reserviertes Abteil erreicht hatten.
Als sich der Zug in Bewegung gesetzt hatte, öffnete er sie wieder. Das Sonnenlicht flutete herein und ließ die Staubpartikel wild in der Luft tanzen. Ella blinzelte und schaute Lucas an. »Sind wir jetzt endlich in Sicherheit?«
»Ich glaube schon. Die Augen sollten wir natürlich trotzdem aufhalten, aber ich denke, dass wir für eine Weile durchatmen können.« Es war, als habe er ihnen ein Mittel gegen Muskelverspannung verabreicht: Beide ließen sich erleichtert in ihre Sitze sinken.
»Und Sie werden meinen Vater von Mailand aus anrufen?«
»Genau. In drei Stunden.« Er bemerkte, wie Chris ihm einen Blick zuwarf, und fragte sich, ob er bereits wusste, was ihnen der Anruf bestätigen würde: dass Ellas Vater längst tot war. Lucas war sich ziemlich sicher, dass Hatto irgendjemandem auf den Fuß getreten haben musste – und zwar so gewaltig, dass der Betreffende nun seine ganze Familie ausradieren wollte. Und er wünschte sehnlichst, umgehend mit Hatto sprechen zu können, weil er erfahren musste, wen er da gegen sich aufgebracht hatte, was eine derart drakonische Vergeltungsmaßnahme ausgelöst haben könnte.
Zwanzig Minuten hinter Florenz nickte Chris ein. Ella starrte aus dem Fenster, seit sie den Bahnhof verlassen hatten. Er fragte sich, was ihr durch den Kopf ging. Sie musste vermutlich den Sturm verarbeiten, der seit gestern über sie hinweggefegt war.
Doch nachdem Chris eingeschlafen war, drehte sie sich zu Lucas um und schaute ihn lange stumm an. »Ich hab über diesen Mann im Hotel nachgedacht«, sagte sie schließlich. Er nickte, um zu zeigen, dass er zuhörte. »Glauben Sie wirklich, dass er mich töten wollte?« Er nickte wieder, diesmal um ihre Frage zu bejahen. Doch sie schien den Vorfall bereits aus einer anderen Perspektive zu bedenken: Dass man sie umbringen wollte, war ihr inzwischen völlig klar. Ihr ging es um etwas anderes. »Eines versteh ich einfach nicht: Er hätte mich töten können, hat’s aber nicht getan. Als er mich anschaute, war es, als hätte er plötzlich seine Meinung geändert.«
»Er hätte seine Meinung erneut ändern können«, sagte Lucas und wollte die Frage, ob sein Tod wirklich notwendig gewesen war, lieber gleich im Keim ersticken. »Du bist ein attraktives Mädchen – das hat ihn einfach aus der Bahn geworfen. Wenn es ein echter Profi gewesen wäre, hätte ich dich heute Morgen verloren.«
Sie schaute überrascht – vielleicht, weil sie seine Worte falsch interpretierte. »Hätte es denn für Sie wirklich einen Unterschied gemacht, ob Sie mich nun verloren hätten oder nicht?«
»Es hätte mich in meinem Stolz gekränkt, vielleicht auch meiner Reputation geschadet. Ich kenne dich nicht gut genug, um darüber hinaus Gefühle zu entwickeln.«
»Gibt es denn überhaupt jemanden, für den Sie Gefühle entwickeln?«
Die unerwartete Frage brachte ihn aus dem Gleichgewicht und
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