Das Fluestern des Todes
zurückgehen musste, um ihr zu erzählen, dass ihre Familie ermordet wurde – und dass er keine Ahnung hatte, ob sie jetzt in Sicherheit war oder je wieder in Sicherheit sein würde.
Als er zurück zum Bahnsteig kam, flatterten vor seinen Füßen ein paar Tauben auf. Er verfolgte sie mit den Augen bis in die gewölbte Kuppel des Bahnhofs. Der Geräuschkulisse zum Trotz glaubte er für einen Augenblick, das Schlagen ihrer Flügel noch immer zu hören – was ihm ein unwirkliches Gefühl inneren Friedens gab.
Er verspürte nur noch den Wunsch, nach Hause zu fahren und die ganze Angelegenheit schnell zu vergessen. Sicher, er war bereits auf dem Weg nach Hause, aber die flüchtige Sehnsucht, die er gerade empfunden hatte, hatte ein vageres, unerreichbares Ziel: menschliche Wärme, Haut zu fühlen und zu riechen, Lachen, eine laue Meeresbrise – Erinnerungen, die zu schmerzhaft waren, um ihnen wirklich nachhängen zu können, ein Gefühl von Zuhause, das er nie sein Eigen hatte nennen können.
Er klopfte an der Tür des Abteils und wartete, bis Chris sie öffnete.
»Ich bleib hier im Korridor, bis wir den Bahnhof verlassen. Mach die Tür wieder zu.«
Chris nickte, und hinter ihm konnte er Ellas Stimme hören. »Haben Sie mit ihm gesprochen?«
Er schaute über Chris’ Schulter. Er hatte mehrfach den Eindruck gehabt, dass sie der Wahrheit sehr nahe war, aber ihr Gesicht verriet nun das Gegenteil: Trotz ihrer Intelligenz, trotz allem, was passiert war, tappte sie noch immer im Dunkeln.
»Nein, hab ich nicht. Ich erklär’s dir, wenn wir abgefahren sind.« Sie sah ihn ratlos an, und Lucas bedeutete Chris, die Tür zu schließen. Er wollte noch warten. Mit Sicherheit würde sie geschockt reagieren, und er hoffte, dass die Geräusche des fahrenden Zuges mögliche Gefühlsausbrüche übertönen würden.
Ein paar Leute drängten sich im engen Gang an ihm vorbei, doch dann rollte der Zug langsam ab, so unmerklich zunächst, dass es aussah, als würden sich die Waggons nebenan bewegen. Er wartete, bis der Zug den Bahnhof verlassen hatte und Fahrt aufnahm.
»Was ist passiert? Erzählen Sie’s mir einfach«, sagte sie, kaum dass er wieder ins Abteil getreten war. Vielleicht hatte ihr Chris ja einen Hinweis gegeben, vielleicht hatte sie sich in den letzten Minuten selbst einen Reim auf das Ganze gemacht. »Die Polizei war dran. Deine Familie ist tot.«
Sie schluchzte nicht auf und weinte auch nicht. Es war, als habe er in einer Sprache gesprochen, die sie kaum verstand und erst in ihrem Kopf übersetzen musste. Und doch war ihm der Ausdruck in ihrem Gesicht wohlvertraut: So sahen Menschen aus, die gerade eine Kugel abbekommen hatten.
Lucas hörte, wie Chris »Scheiße, Scheiße, Scheiße« murmelte, und drehte sich kurz zu ihm um. Er saß auf der Kante seines Sitzes und hatte den Kopf in den Händen vergraben.
»Alle?«
Er schaute zu Ella zurück. »Ja, alle. Sie wurden erschossen, wahrscheinlich zur gleichen Zeit, als sie dich gestern Abend erledigen wollten.«
»Aber warum?«
»Dein Vater muss jemanden fürchterlich abgezockt haben. Er hatte Feinde.«
Ihr Gesichtsausdruck und ihre Gedanken verschmolzen endlich zu einer Einheit, gefolgt von einer plötzlichen Flut aus Tränen, unkontrollierten Gefühlen und unverständlichen Worten.
»Aber Ben hatte keine Feinde.« Sie konnte nicht weiterreden und gab nur noch abrupte Schluchzer von sich. Chris nahm sie in den Arm, und sie klammerte sich an ihn. Er flüsterte ihr tröstende Worte ins Ohr, doch je mehr er sagte, umso heftiger presste sie sich an ihn.
Lucas ging auf den Gang und schloss die Tür. Zunächst blieb im Abteil alles ruhig. Wie erhofft schienen die Geräusche des Zugs alle Gefühlsausbrüche zu verschlucken. Nachdem sich seine Ohren an die Geräuschkulisse gewöhnt hatten, wurde ihr Jammern aber unüberhörbar. Er fühlte sich verwundbar und schaute sich unruhig um.
Eine ältere Dame kam ihm entgegen. Sie war so übergewichtig, dass sie sich nicht an ihm vorbeidrängen konnte. Normalerweise wäre er in sein Abteil zurückgetreten, um die Frau vorbeizulassen. Aber er wollte die Tür nicht öffnen und den aufgestauten Jammer herauslassen.
Stattdessen ging er ein Stück den Gang hinunter und verschwand in einem leeren Abteil, um mit der Frau keinen Augenkontakt aufnehmen zu müssen. Danach kehrte er wieder zurück und hatte zum zweiten Mal die trügerische Hoffnung, dass sich Ella inzwischen beruhigt hatte. Aber es hatte sich nichts geändert, im
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