Das Fluestern des Todes
Gegenteil: Das zusammenhanglose Jammern und Wimmern wurde nur noch lauter und intensiver.
Dabei konnte er ihr nicht helfen. Er konnte Ella Hattos Leben schützen, er konnte für sie morden, aber Trost und Mitgefühl spenden konnte er nicht. Dazu war er einfach nicht fähig. Es lief ihm kalt den Rücken hinunter, weil ihre Qual auch sein eigenes Innerstes nach außen stülpte: Er war der Mann mit der Waffe – sonst nichts. Und selbst das wollte er nicht mehr sein.
FÜNF
Sie wunderte sich über den seltsamen Rock, als sie die Augen aufschlug und langsam wieder zu sich kam. Sie trug einen langen Rock, den sie nicht kannte. Da sie, im Schlaf halb aus ihrem Sitz gerutscht war, glaubte sie, das Rätsel lösen zu können, wenn sie sich erst einmal aufrichtete.
Doch Chris hielt sie in seinem Arm, und da der Zug sie so wohltuend schaukelte, blieb sie erst einmal liegen. Aus dem Augenwinkel sah sie allerdings, dass sich noch jemand im Abteil befand. Und dann war plötzlich alles wieder da: Lucas.
Sie sprang vom Sitz hoch, als sei sie aus einem Albtraum gerissen worden. Chris ließ sie los, Lucas schaute von seinem Buch auf – neugierig vielleicht, mehr aber nicht. Sie wollte gerade erzählen, dass sie den schlimmsten Traum ihres Lebens gehabt hatte, doch dann sickerte die Realität langsam ein.
Ihre Familie war tot, hatte Lucas gesagt. Männer wie die, die sie selbst hatten umbringen wollen, waren in ihr Haus eingedrungen und hatten ihre Eltern und auch Ben umgebracht. Ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen, ihre Kehle schnürte sich zu, aber sie riss sich zusammen und konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt.
»Wie fühlst du dich?« Sie schaute zu Lucas hinüber, aber eigentlich konnte die Frage nicht von ihm kommen. Er war schon wieder in sein Buch vertieft, und sie fragte sich verwundert, ob er wohl Angst vor ihren Gefühlen hatte oder vor seinen eigenen, ob er überhaupt mit jemandem fühlen konnte oder emotional völlig verdorrt war.
In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte sie öfter den Eindruck gehabt, dass er noch eine andere, weichere Seite habe. Das Gespräch mit Chris heute Morgen, das sie vom Bad aus belauscht hatte, überhaupt die Art und Weise, wie er sie beide durch das Chaos steuerte, schien darauf hinzudeuten, dass es für ihn mehr war als nur ein Job.
Doch wenn sie ihn nun so anschaute überkamen sie wieder Zweifel. Er war einfach anders als sie. Was letztlich aber auch keine Rolle spielte – jedenfalls nicht im Vergleich mit der Tatsache, dass sie nun mutterseelenallein und ihr halbes Leben ausradiert worden war.
Es war eine Tatsache, die sie noch immer nicht richtig verarbeiten konnte. Es war einfach zu überwältigend, zu endgültig. Wie war es möglich, dass es sie einfach nicht mehr gab? Wie konnte es sein, dass Ben aus dieser Welt verschwunden war? Die Vorstellung erschien ihr so unwirklich, dass sie nach potenziellen Erklärungen dafür suchte, wie Lucas womöglich dieser Fehlinformation aufgesessen sein konnte. Oder vielleicht log er ja auch. Wie Chris bereits angedeutet hatte, wussten sie weder, wer er war, noch ob ihr Vater ihn tatsächlich engagiert hatte.
»Ella? Wie geht’s dir?« Sie sah Chris’ Gesicht, hörte die Frage – und wusste, dass alle Erklärungsversuche hoffnungslos waren. Sie waren tot. Sie selbst hatte bis zur körperlichen Erschöpfung geheult – so sehr, dass ihr Kiefer noch immer schmerzte –, und doch hatte sie noch immer keinen Abstand dazu, keine Fakten, nichts, was ihr geholfen hätte, die Realität wirklich zu begreifen.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie schließlich, doch ihre Stimme klang fremd – als käme sie vom Meeresboden oder aus einem fürchterlichen Traum.
»Ich hab ein paar Getränke geholt. Willst du was? Coke? Wasser?«
»Wasser bitte.« Er gab ihr die Flasche. Das Wasser war lauwarm, aber sie nahm ein paar Schlückchen – und dann noch mehr, als sie feststellte, wie ausgedörrt ihre Kehle war.
Im ersten Moment glaubte sie, draußen würde es dunkel werden, aber als sie aus dem Fenster schaute, bemerkte sie, dass sich der Himmel zugezogen hatte und sie durch eine regnerische Alpenlandschaft fuhren.
»Sind wir schon in der Schweiz?«
Lucas schaute von seinem Buch auf, sah kurz auf die Uhr, sagte aber nichts.
»Du hast ein paar Stunden geschlafen«, sagte Chris.
»Wenn du dich frisch machen willst, solltest du’s jetzt tun. Wir werden bald ankommen und haben dann noch eine halbe Stunde mit dem Auto.«
»Wo fahren wir denn
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