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Das Flüstern des Windes (German Edition)

Das Flüstern des Windes (German Edition)

Titel: Das Flüstern des Windes (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Wekwerth
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auch wenn er sich jetzt etwas gebeugt hielt und in seinem langen, schwarzen Haar und dem dunklen Vollbart vereinzelt Silbersträhnen aufblitzten. Sein Gesicht hatte durch den Kummer scharfe Linien um die Mundwinkel bekommen und Lelina sah, dass die Last der Zeit auch an ihm nicht spurlos vorübergegangen war.
    Karem stand stumm neben ihr. Lelina blickte ihn fragend an. Seit langer Zeit zeigte sich zum ersten Mal wieder ein Lächeln auf seinem Gesicht. Karem nickte ihr zu.
    Mit großen Schritten, die immer schneller wurden, rannte sie ihrem Vater entgegen. Der Mann blickte auf. In seinem Gesicht zeichnete sich Ratlosigkeit ab. Er erkannte sie nicht. Für ihn war das kleine Mädchen, das einmal seine Tochter gewesen war, vor über zehn Jahren gestorben.
    Hilflos, mit hängenden Armen, blieb Lelina vor ihm stehen.
    »Ich bin es, Vater«, sagte sie leise.
    Die Furchen auf seiner Stirn wurden tiefer, aber dann glitt ein Hoffnungsschimmer über sein Gesicht.
    »Lelina?«
    »Ja, Vater.«
    »Lelina!«, rief er freudig aus. Die Axt fiel zu Boden. Mit ausgebreiteten Armen ging er auf sie zu. Alles an ihm drückte vollkommenes Glück aus. Lelina warf sich an seine breite Brust.
    Sie weinte vor Erleichterung, während ihr Vater ihr sanft über das Haar strich, so wie er es schon getan hatte, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Seine Stimme flüsterte immer wieder ihren Namen.
    Lange standen sie so da und genossen die verloren geglaubte Nähe des anderen. Schließlich löste sich Lelina aus seiner Umarmung.
    »Vater, ich möchte, dass du jemanden ...«
    Die Worte erstarben auf ihren Lippen, als sie sich umwandte.
    Karem war gegangen.
     
    Karem versank vollkommen in Verzweiflung. Der Anblick Lelinas und ihres Vaters hatte einen glühenden Dolch in sein Herz gerammt.
    Crom hatte seine Familie gefunden. Lelina war heimgekehrt.
    Für ihn gab es kein zu Hause mehr. Die Menschen, die er einmal seine Familie genannt hatte, waren seit langer Zeit tot. Es gab keinen Ort, an den er zurückkehren konnte. Die zehn Jahre Sklaverei hatten seine kindliche Erinnerung ausgelöscht.
    Das Schwert in der Scheide schlug unangenehm gegen seine Seite, während er die Straße, die in den Wald zurückführte, hinunter rannte, aber er beachtete es nicht. Über sein Gesicht liefen die Tränen, die er so lange zurückgehalten hatte. Nun endlich konnte er weinen.
    Djoran, Medak, Marga, Gram, Masak, Kulan, Threm, Rao und Hersan tot. Pinius, Crom und Lelina für immer aus seinem Leben getreten. Die Einsamkeit nahm ihm die Luft zum Atmen.
    Wohin sollte er gehen? Was sollte er tun?
    Er hatte kein Handwerk erlernt. Er hatte keinen Besitz außer den Kleidern und den Waffen, die er trug. Bald würde der spärliche Rest seines Geldes verbraucht sein, dann würde der Hunger kommen.
    Im besten Fall konnte er sich als Söldner im Dienst eines gierigen Fürsten verdingen, bis er getötet oder zu alt zum Kämpfen wurde. Dann wäre seine Zukunft wieder in Blut geschrieben, und das verzweifelte Kreischen der Verwundeten und Sterbenden würde nachts in seinen Ohren gellen.
    Karem rannte, bis ihn die Erschöpfung zwang, stehen zu bleiben, aber auch dann flossen die Tränen weiter.
     
     

3.
     
    Die Tage vergingen. Während Karem ziellos durch das Land streifte, fand seine verletzte Seele wieder innere Ruhe. Der Anblick der grünen Wälder mit ihren eisklaren Seen, kleinen und größeren Flüssen rief längst vergessen geglaubte Erinnerungen in ihm wach, die ihn seiner toten Familie näher brachten.
    Auf seiner Wanderschaft begegnete er vielen Menschen. Das Land war längst nicht so unbesiedelt, wie es wirkte. Die meisten von ihnen waren freundlich zu ihm, boten ihm einen Platz zum Schlafen oder die Möglichkeit, ein paar Kupferstücke zu verdienen, an. Aber es gab auch viele, die von der Armut gezeichnet waren.
    Familien, Männer, Frauen, Kinder durchzogen das Land. Heimatlos, rastlos suchten sie nach einem Ort des Neubeginns. Sie besaßen nur wenig mehr als Karem und das Wenige bewachten sie misstrauisch gegenüber jedem Fremden. Karem lernte bald, solchen Gruppen aus dem Weg zu gehen und schloss sich lieber einzelnen Reisenden an, die ein bestimmtes Ziel hatten, und die er ein Stück des Weges begleiten konnte.
    Seit nunmehr zwei Tagen war er wieder allein unterwegs. Der Pelzhändler Zaram, ein kleiner, rundlicher Mann, mit dem er eine Woche lang gereist war, hatte die Abzweigung nach Selsat genommen und seine Packtiere in die Berge geführt. Karem hatte die

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