Das Foucaultsche Pendel
ungläubig, blindlings.
Jacopo, solange ich noch lesen konnte in diesen Monaten, habe ich viele Wörterbücher gelesen. Ich habe Wortgeschich-ten studiert, um zu begreifen, was mit meinem Körper passierte. Wir Rabbiner machen das so. Hast du jemals darüber nachgedacht, daß der linguistische Terminus ›Metathese‹
dem onkologischen Terminus ›Metastase‹ ähnelt? Was ist eine Metathese? Statt Wespe sagst du Wepse, und statt Herakles kannst du auch Herkules sagen. Das ist die Temurah.
Das Wörterbuch sagt dir, daß Metathese Umstellung heißt, Mutation. Und Metastase heißt Umstellung, Veränderung.
Wie dumm, die Wörterbücher. Die Wurzel ist dieselbe, entweder das Verb metatithemi oder das Verb methistemi. Aber metatithemi heißt: ich setze um, ich verrücke, verschiebe, sub-stituiere, schaffe ein Gesetz ab, ändere den Sinn. Und methistemi? Genau dasselbe, ich verlagere, permutiere, transponiere, ändere die öffentliche Meinung, schnappe über und werde verrückt. Wir, und mit uns jeder, der einen verborgenen Sinn hinter den Buchstaben sucht, wir sind überge-676
schnappt und verrückt geworden. Und so haben es auch meine Zellen getan, gehorsam. Deswegen sterbe ich, Jacopo, und du weißt es.«
»Du redest jetzt so, weil’s dir schlechtgeht...«
»Ich rede jetzt so, weil ich endlich alles über meinen Körper begriffen habe. Ich studiere ihn Tag für Tag, ich weiß, was in ihm vorgeht, ich kann nur nicht eingreifen, meine Zellen gehorchen mir nicht mehr. Ich sterbe, weil ich meine Zellen davon überzeugt habe, daß es keine Regel gibt, daß man aus jedem Text machen kann, was man will. Ich habe mein Leben dafür gegeben, mich davon zu überzeugen, mich samt meinem Gehirn. Und mein Gehirn muß die Botschaft an sie weitergegeben haben, an die Zellen. Wieso soll ich mir einreden, meine Zellen seien klüger als mein Gehirn? Ich sterbe, weil wir über jede Grenze hinaus phantasievoll gewesen sind.«
»Hör zu, was mit dir geschieht, hat nichts mit unserem Großen Plan zu tun...«
»Nein? Und wieso geschieht dann mit dir, was mit dir geschieht? Die Welt benimmt sich wie meine Zellen.«
Er verstummte erschöpft. Der Doktor kam herein und zischte leise, man dürfe einen Sterbenden nicht so unter Streß setzen.
Belbo ging hinaus, und es war das letzte Mal gewesen, daß er Diotallevi gesehen hatte.
Sehr gut, hatte er geschrieben, ich werde also aus denselben Gründen von der Polizei gesucht, aus denen Diotallevi jetzt Krebs hat. Armer Freund, du stirbst, aber ich, der ich keinen Krebs habe, was tue ich? Ich fahre nach Paris, um den Grund der Wucherung zu suchen.
Er ergab sich nicht gleich. Er schloß sich vier Tage lang in seiner Wohnung ein und ordnete seine files um und um, Satz für Satz, um eine Erklärung zu finden. Dann schrieb er seinen Bericht, schrieb ihn wie ein Testament, schrieb ihn für sich, für Abulafia, für mich oder für wen immer, der ihn irgendwann würde lesen können. Und am Dienstag ist er dann schließlich gefahren.
Ich glaube, Belbo ist nach Paris gefahren, um denen zu sagen, daß es keine Geheimnisse gibt, daß das wahre Geheimnis darin besteht, die Zellen ihrer instinktiven Weisheit 677
folgen zu lassen, und daß man, wenn man Geheimnisse unter der Oberfläche sucht, die Welt zu einem schmutzigen Krebsgeschwür reduziert. Und daß der Schmutzigste und der Dümmste von allen er selber war, der nichts wußte und sich alles bloß ausgedacht hatte — und es muß ihn viel gekostet haben, das zu sagen, aber er hatte sich schon zu lange mit dem Gedanken abgefunden, daß er ein Feigling war, und wie De Angelis ihm ja gerade erst wieder bewiesen hatte, gibt es nur sehr wenige Helden.
In Paris muß er dann gleich beim ersten Kontakt mit denen gemerkt haben, daß sie seinen Worten nicht glaubten. Seine Worte waren zu einfach. Diese Leute erwarteten nun eine Enthüllung, andernfalls würden sie ihn töten. Aber Belbo hatte keine Enthüllung zu machen, er hatte nur — letzte seiner Feigheiten — Angst zu sterben. Und da hatte er versucht, seine Spur zu verwischen, und hatte mich angerufen.
Aber sie hatten ihn geschnappt.
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C’est une leçon par la suite. Quand votre ennemi se reproduira, car il n’est pas à son dernier mas-que, congédiez-le brusquement, et surtout
n’allez pas le chercher dans les grottes. *
Jacques Cazotte, Le diable amoureux, 1772, in den folgenden Ausgaben gestrichen
Und was, fragte ich mich in Belbos Wohnung, als ich seine Bekenntnisse zu Ende
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