Das Frankenstein-Projekt (German Edition)
einzuschalten, und tatsächlich: Im schwachen Licht des Displays konnten sie wenigstens erkennen, wohin sie ihre nächsten Schritte setzten.
Langsam und vorsichtig gingen sie auf dem schmalen, vielleicht 30 Zentimeter breiten Mauervorsprung entlang, der auf Höhe der Gleise verlief. Wenn sie keinen Ausgang oder wenigstens eine Wandnische fanden, ehe der nächste Zug heranrauschte, sah es verdammt schlecht für sie aus.
»Und wie weit ist es noch bis zu den Rettungsschächten?« Die Frage hatte Adrian gestellt, der sich mit einer Hand an Agent Purdy festhielt und sich mit der anderen an der kalten, gekachelten Wand des U-Bahn-Schachts entlangtastete.
In Isabella stieg Panik auf. »Und was ist, wenn wir es nicht schaffen?«
»Wir schaffen das«, sagte Adrian. »Oder hast du etwa vor, mit 15 in einem blöden U-Bahn-Schacht zu sterben?«
Nein, das hatte sie natürlich nicht. Komischerweise beruhigten Adrians Worte sie ein wenig. Die Angst wich langsam einem Gefühl von Zuversicht, dass doch noch alles gut werden würde. In der Finsternis fand ihre Hand Adrians Hand und hielt sie fest.
Nach etwa fünf Minuten erreichten sie die rettende Nische in der Wand. Doch sehr schnell stellte sich heraus, dass der Platz nicht für sie alle reichen würde. Wie oft sie sich auch umstellten – einer von ihnen passte nicht mit hinein. Wenn es ihnen jedoch nicht gelang, alle in der Nische unterzubringen, würde derjenige, der draußen stand, vom nächsten Zug erfasst und mitgeschleift werden. Was für ihn den sicheren Tod bedeutete.
»Das gibt es doch gar nicht«, sagte Night. »Das muss doch …«
Jetzt war im U-Bahn-Schacht ein leises Schnarren und Surren zu hören. Hastig stellten sie sich abermals um. Mit demselben Ergebnis. Das Schnarren und Surren wurde immer lauter. Und in der Ferne erhellten elektrische Blitze den Tunnel.
Irgendwie musste es doch funktionieren …
Talbot hatte den schützenden Bereich der Nische verlassen und machte sich bereit. Im flackernden Licht der elektrischen Funken traf sein Blick den des Jungen. Der schüttelte fast unmerklich den Kopf. Talbot sah ihn traurig an und nickte ihm ein letztes Mal zu. Aus dem Jungen kann noch mal richtig was werden, dachte er, als er in Adrians trauriges Gesicht blickte und gleichzeitig seine Muskeln für den Absprung anspannte. Und der Gedanke, dass er das nicht miterleben würde, versetzte ihm zu seiner Überraschung einen schmerzhaften Stich. Niemals hätte er sich träumen lassen, auf seine alten Tage noch einmal väterliche Gefühle zu entwickeln. Aber er hätte sich ja auch nie träumen lassen, dass sein Leben in einem stockfinsteren U-Bahn-Schacht enden würde. Die Liebe und der Tod packten einen meist dann am Schlafittchen, wenn man ganz und gar nicht mit ihnen rechnete, dachte er bitter.
Der Zug bog um die Ecke. Talbot konnte bereits die Lichter sehen, fast den Zielbahnhof lesen.
Es ist so weit, dachte er. Zeit zu gehen.
Im selben Augenblick, als Talbot sich von dem schmalen Sims, auf dem er stand, abstoßen wollte, machte Adrian einen Schritt nach vorn, packte mit beiden Händen Talbots Hemdkragen und schubste ihn, so fest er konnte, zurück in die Nische.
»Adriaaan!« Isabella schrie entsetzt auf, als Adrian sich ins Gleisbett fallen ließ. Nur den Bruchteil einer Sekunde später schoss ratternd und polternd die U-Bahn vorbei. Isabellas gellender Schrei ging im metallischen Kreischen des Zugs unter.
Elevator 5
Night’s Agency, London
Der Leiter der Elevator-Einheit, Chefingenieur Scott Morrison, hatte nichts von alldem mitbekommen. Er saß an seinem angestammten Platz in der Schaltzentrale, die sich tief unterhalb Londons im Bauch der Erde befand, und kaute zunehmend nervös auf einem labberigen Thunfischsandwich aus dem Automaten herum. Vor sich hatte er mehrere Bildschirme, mit deren Hilfe er die Einstiege und auch die Zugänge zu den einzelnen Gangways im Auge behalten konnte.
Gleich 23:00 Uhr.
Er hatte Night nicht erreicht, aber er würde es weiter versuchen. Auch über die anderen Leitungen war niemand zu bekommen. Auf General Wastes und Major McGuffins Mailbox hatte er Nachrichten hinterlassen. Er konnte nur hoffen, dass er sich, was den Leiter der Systemsicherheit anging, irrte, und dass es für all die seltsamen Ausfälle eine harmlose Erklärung gab.
Die Gänge waren hell erleuchtet und um diese Zeit meist menschenleer. So auch jetzt. Kam keine Kapsel an, sondern näherte sich jemand seinem Refugium zu Fuß, so konnte er ihn
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