Das Frankenstein-Projekt (German Edition)
Brust.
»Du wirst mir noch mal dankbar sein.«
»Ja, sicher.« Adrians Stimme klang wie Gewittergrollen.
Seine Tante sah ihn an. Er war groß geworden in den letzten drei Jahren, und es wurde nicht einfacher mit ihm. Manchmal wünschte sie, sie hätte jemanden an ihrer Seite, jemanden, der sie ein bisschen unterstützte.
»Ich bin müde. Ich gehe ins Bett.« Sie stand auf und ging zur Tür. »Tu mir den Gefallen und zieh dich auch aus, ja? Und vergiss nicht, das Licht auszumachen. Gute Nacht.«
»Gute Nacht.«
Dann war die Tür zu. Adrian hörte, wie seine Tante hinunterging, im Wohnzimmer und in der Küche die Jalousien herunterließ und die Haustür absperrte, während er auf dem Bett lag und über ihr Gespräch nachdachte. Im Grunde hatte sie ja recht. In letzter Zeit saß er oft sehr lange vor dem PC. Und meistens surfte er im Internet. Aber dass er jede freie Minute vor dem Bildschirm verbrachte, stimmte einfach nicht. Dazu hatte er viel zu viele andere Interessen.
Was ihn an dem Computerverbot eigentlich am meisten ärgerte, war, dass er seine Auktionen nicht beobachten konnte. Denn er hatte eine ausgeprägte Schwäche für Rätsel und Geheimnisse. Er liebte Sherlock Holmes und James Bond. Und wenn er nicht gerade einen Agententhriller las oder ein spannendes Krimihörspiel hörte, experimentierte er mit seinem Detektivkoffer herum, baute Alarmanlagen, nahm Fingerabdrücke oder rührte irgendwelche Geheimtinten zusammen. Sogar ein richtiges Geheimversteck hatte Adrian sich eingerichtet – es lag hinter einer als Bücherregal getarnten Tür in Tante Margrets Arbeitszimmer verborgen. Eben diese Schwäche für alles Rätselhafte und Geheimnisvolle war es auch, die ihn hin und wieder auf Dinge bieten ließ, von denen er sich ein wenig Nervenkitzel versprach. Dinge, die sonst niemanden zu interessieren schienen. So wie diesen verdreckten, alten und verbeulten Koffer, den er neulich entdeckt hatte und der angeblich nichts weiter enthielt als zwei vergilbte Bögen Blankopapier und ein leeres Notizbuch. Das war ihm so ungewöhnlich vorgekommen, dass er gleich ein Gebot abgegeben hatte. Mit etwas Glück war er der einzige Bieter geblieben.
Adrian nahm sich vor, gleich morgen nach dem Unterricht bei Herrn Waldmann, dem Hausmeister seiner Schule, vorbeizugehen und nach dem Koffer zu sehen. Herr Waldmann war nämlich ziemlich gut ausgerüstet. Er hatte nicht nur die obligatorische Kaffeemaschine in seinem Hausmeisterkabuff stehen, sondern auch einen superschnellen Rechner mit Internetzugang. Waldmann war bei Lehrern und Schülern gleichermaßen beliebt, doch Adrian kam besonders gut mit ihm zurecht, was womöglich daran lag, dass Herr Waldmann Tante Margret noch aus dem aktiven Schuldienst kannte und sich seit Jahr und Tag um ihren Garten kümmerte. Häufig kam er bei ihnen zu Hause vorbei, um Reparaturen am Haus auszuführen oder einfach nur nach dem Rechten zu sehen. Für Adrian, der Herbert Waldmann schon beinahe ebenso lange kannte, wie er bei seiner Tante wohnte, war der Hausmeister im Laufe der Jahre so etwas wie ein väterlicher Freund geworden, mit dem er über Gott und die Welt reden konnte. Wenngleich Adrian es natürlich niemals gewagt hätte, ihn beim Vornamen zu nennen, kamen sie doch ziemlich gut miteinander klar. Nicht selten verbrachte er ganze Nachmittage in Herrn Waldmanns Kabuff und machte oft noch vor der Schule seine Hausaufgaben dort.
Der Koffer lief ihm nicht weg. Jetzt musste Adrian erst mal das Problem mit der fehlenden Unterschrift in den Griff kriegen.
Sie einfach zu fälschen, kam nicht infrage. Denn so wie er Tante Margret kannte, würde sie sich in ein oder zwei Tagen doch noch dazu herablassen, das Heft abzuzeichnen. Sie würde nur sichergehen wollen, dass er die Schmach einer Rüge hatte ertragen müssen. Also musste die Unterschrift zwar morgen früh um acht da sein, wenn Frau Krailsmeyer sie sehen wollte, indessen wieder verschwinden, ehe seine Tante das Heft am Nachmittag in die Finger bekam.
Adrian rollte sich vom Bett herunter und stand schwungvoll auf. Er öffnete die oberste Schublade des Schreibtisches, nahm sie ganz heraus und stellte sie vorsichtig auf den Boden. Dann griff er abermals in das Fach und tastete nach der flachen Pappschachtel, die er mit doppelseitigem Klebeband von unten an die Tischplatte geklebt hatte. Er riss sie ab, setzte die Schublade wieder ein und öffnete die Schachtel. Ein Stift mit farbloser Miene, wie bei einem Tintenkiller, zwei kleine
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