Das fremde Gesicht
angelangt war, anfangen einem Mädchen nachzugehen und versuchen, sie anzufassen, oder? Nicht daß er ihr etwas antun wollte, aber es war zu oft vorgekommen, daß Bernard nervös wurde, wenn ein Mädchen schrie. Ein paar junge Frauen hatte er wirklich schlimm zugerichtet.
Sie hatten gesagt, wenn das noch einmal passieren würde, dann dürfte er nicht mehr nach Hause. Sie würden ihn auf Dauer einsperren. Und er wußte das.
Das einzige, was ich in all diesen Stunden wirklich herausgefunden habe, ist, wie oft mein Mann mich betrogen hat, dachte Catherine, als sie am Freitag spätnachmittags die Akten von sich wegschob. Sie hatte keine Lust mehr, sich damit zu befassen. Was hatte sie denn davon, daß sie das nun alles wußte? Es tut so furchtbar weh, dachte sie.
Sie stand auf. Draußen herrschte stürmisches Novemberwetter. In drei Wochen war Thanksgiving. An diesem Feiertag war immer viel im Gasthof los.
Virginia hatte angerufen. Die Immobilienleute ließen nicht locker. Ob der Gasthof zum Verkauf stehe? Die meinten es offenbar ernst, berichtete sie. Sie hätten sogar den Betrag genannt, den sie als Verhandlungsbasis ansähen. Sie hätten noch ein anderes Objekt im Auge, falls Drumdoe nicht verkäuflich sei. Das hätten sie jedenfalls behauptet. Aber es könnte ja zutreffen.
Catherine fragte sich, wie lange sie und Meg noch gegen den Wind kreuzen konnten.
Meg … Ob sie sich wohl wegen des Verrats ihres Vaters einkapseln würde, so wie damals, als Mac Ginger heiratete? Catherine hatte es sich nie anmerken lassen, daß sie wußte, wie sehr sich Meg die Sache mit Mac zu Herzen genommen hatte. Edwin war es immer gewesen, bei dem ihrer beider Tochter Trost gesucht hatte. Warum auch nicht? Vaters kleines Mädchen. Das lag in der Familie. Ich war auch eine typische Vatertochter, dachte Catherine.
Catherine bekam sehr wohl mit, wie Mac neuerdings Meg anschaute. Sie hoffte, daß es nicht zu spät war.
Edwin hatte es seiner Mutter nie verziehen, daß sie ihn abgelehnt hatte. Meg hatte einen Schutzwall um sich herum aufgerichtet, was Mac betraf. Und so großartig sie auf ihre Weise Kyle behandelte, so übersah sie doch bewußt, wie hoffnungsvoll er immer auf sie zuging.
Catherine sah flüchtig eine Bewegung drüben in dem Waldstück. Sie erstarrte und entspannte sich dann wieder.
Es war ein Polizist. Wenigstens überwachten sie die Gegend hier.
Sie hörte das Geräusch eines Schlüssels im Türschloß.
Catherine stieß einen dankbaren Stoßseufzer aus. Die Tochter, die alles übrige erträglich machte, war wohlbehalten zurück.
Vielleicht konnte sie sich jetzt für eine Weile dem suggestiven Bann der Bilder entziehen, die heute nebeneinander in den Zeitungen abgedruckt waren: das offizielle Presseporträt Megs von Channel 3 und das Profifoto, das Annie für ihre Reise-Essays benutzt hatte.
Auf Catherines ausdrücklichen Wunsch hin hatte Virginia alle Ausgaben der Tageszeitungen, die zum Gasthof kamen, herübergeschickt, inklusive der Boulevardblätter. In den Daily News war neben den beiden Porträts auch das Fax in Kopie abgedruckt, das Meg in der Nacht nach Annies Ermordung erhalten hatte.
Die Schlagzeile über dem dazugehörigen Bericht lautete: STARB DIE FALSCHE SCHWESTER?
»Hallo, Mom! Ich bin wieder da.«
Zur Beruhigung warf Catherine noch einen Blick auf den Polizisten am Waldrand und drehte sich dann um, ihre Tochter zu begrüßen.
Virginia Murphy war die halboffizielle stellvertretende Leiterin des Drumdoe Inn. Technisch gesehen die Empfangsdame des Restaurants, nach Bedarf auch für Zimmerreservierungen zuständig, vertrat sie Catherine praktisch in jeder Hinsicht, wenn sie nicht da war oder in der Küche zu tun hatte. Sie war zehn Jahre jünger als Catherine, fünfzehn Zentimeter größer und rundlich dort, wo es hübsch aussah; sie war eine gute Freundin und eine loyale Angestellte.
Da sie um die finanzielle Lage des Gasthofs wußte, bemühte sich Virginia unablässig, dort zu sparen, wo es nicht auffiel. Sie wünschte sich von ganzem Herzen, daß Catherine den Gasthof behalten konnte. Wenn sich erst einmal all diese schreckliche Publicity gelegt hatte, war das hier der beste Platz für Catherine, wieder ein normales Leben zu führen.
Es wurmte Virginia, daß sie Catherine unterstützt und bestärkt hatte, als diese verrückte Innenarchitektin mit ihren sündhaft teuren Stoffmustern und Kachelproben und Installationskatalogen daherkam. Und das nach den Kosten der dringend notwendigen
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