Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das fremde Gesicht

Titel: Das fremde Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Higgins Clark
Vom Netzwerk:
weiter. Das früheste Schreiben datierte dreißig Jahre zurück. Alle Briefe liefen auf die gleiche Bitte hinaus.

    Lieber Edwin, ich hatte gehofft, ich würde vielleicht diesmal zu Weihnachten etwas von Dir hören. Ich bete darum, daß es Dir und Deiner Familie gutgeht. Wie liebend gern würde ich doch meine Enkelin sehen.
    Vielleicht wirst Du es eines Tages zulassen, daß dies geschieht.
    In Liebe, Mutter

    Lieber Edwin, es heißt, wir sollen immer nach vorne schauen. Doch wenn man älter wird, ist es viel leichter, zurückzuschauen und die Fehler der Vergangenheit bitter zu bereuen. Ist es denn nicht möglich, daß wir miteinander reden, wenigstens am Telefon? Es würde mich so glücklich machen.
    In Liebe, Mutter

    Nach einer Weile konnte Meg es nicht ertragen, weiterzulesen, aber das abgenutzte Aussehen der Briefe zeigte deutlich, daß ihr Vater sich wieder und wieder in sie vertieft haben mußte.
    Dad, du warst so gutherzig, dachte sie. Warum hast du allen erzählt, deine Mutter sei tot? Was hat sie dir angetan, was so unverzeihlich war? Warum hast du diese Briefe aufgehoben, wenn du dich nie mit ihr versöhnen wolltest?
    Sie nahm das Kuvert in die Hand, das die Todesnachricht enthalten hatte. Es war kein Name angegeben, aber die hinten aufgedruckte Adresse war eine Straße in Chestnut Hill. Sie wußte, daß Chestnut Hill eines der exklusivsten Wohngebiete in Philadelphia war.
    Wer war der Absender? Wichtiger noch: Was für ein Mann war ihr Vater in Wirklichkeit gewesen?

    20
    In Helene Petrovics bezauberndem, im Kolonialstil erbauten Haus in Lawrenceville, New Jersey, war ihre Nichte Stephanie schlecht gelaunt und voller Sorge. Das Baby war in wenigen Wochen fällig, und sie hatte Rückenschmerzen. Sie war ständig müde. Als Überraschung hatte sie sich die Mühe gemacht, ein warmes Mittagessen für Helene vorzubereiten, die gesagt hatte, sie habe vor, bis mittags daheim zu sein.
    Um halb zwei hatte Stephanie versucht, ihre Tante anzurufen, aber im Apartment in Connecticut meldete sich niemand. Jetzt, um sechs Uhr, war Helene noch immer nicht eingetroffen. Ob irgend etwas nicht in Ordnung war?
    Vielleicht hatten sich noch in letzter Minute ein paar Sachen ergeben, die erledigt werden mußten, und Helene lebte schon so lange allein, daß sie es nicht gewohnt war, jemand anders von ihren Unternehmungen in Kenntnis zu setzen.
    Stephanie war bestürzt gewesen, als Helene ihr am Tag zuvor telefonisch mitteilte, sie habe gekündigt, mit sofortiger Wirkung. »Ich brauche Erholung, und ich mache mir Sorgen, daß du so viel allein bist«, war Helenes Begründung gewesen.
    Tatsächlich aber war Stephanie sehr gerne allein. Sie hatte nie den Luxus gekannt, so lange im Bett liegenbleiben zu können, bis sie beschloß, Kaffee zu machen und die Zeitung zu holen, die in aller Herrgottsfrühe ausgeliefert worden war. An wahrhaft faulen Tagen schaute sie sich dann, noch immer im Bett, die Vormittagsprogramme im Fernsehen an.
    Sie war zwanzig, sah jedoch älter aus. Während sie heranwuchs, hatte sie davon geträumt, einmal wie die jüngere Schwester ihres Vaters zu sein, Helene, die zwanzig Jahre zuvor nach dem Tod ihres Mannes in die Vereinigten Staaten gegangen war.
    Jetzt war dieselbe Helene ihr Rettungsanker, ihre Zukunft in einer Welt, die nicht mehr existierte, wie sie ihr vertraut gewesen war. Die blutige, kurze Revolution in Rumänien hatte ihre Eltern das Leben gekostet und ihr Heim zerstört. Stephanie war zu Nachbarn gezogen, deren winziges Haus keinen Platz für einen weiteren Bewohner bot.
    Im Laufe der Jahre hatte Helene von Zeit zu Zeit etwas Geld und ein Geschenkpaket zu Weihnachten geschickt.
    Völlig verzweifelt hatte Stephanie sie schriftlich um Hilfe angefleht.
    Einige Wochen später war sie an Bord eines Flugzeugs in die Vereinigten Staaten.
    Helene war so gut zu ihr. Bloß wollte Stephanie nun einmal brennend gern in Manhattan wohnen, sich eine Stelle in einem Schönheitssalon besorgen und in eine Abendschule für Kosmetik gehen. Ihr Englisch war schon jetzt ausgezeichnet, obwohl sie bei ihrer Ankunft ein Jahr zuvor erst ein paar Brocken gekonnt hatte.
    Fast war es soweit. Sie hatte sich mit Helene Einzimmerapartments in New York angeschaut. Sie fanden eins in Greenwich Village, das im Januar frei sein würde, und Helene hatte versprochen, gemeinsam mit ihr für die Einrichtung Besorgungen zu machen.
    Das Haus hier stand zum Verkauf. Helene hatte immer gesagt, sie werde weder ihre Stellung noch ihre

Weitere Kostenlose Bücher