Das fremde Gesicht
Dr.
Lyons’ kleinem Büro seine Verdachtsgründe darlegte.
Lyons war ein hagerer Mann von Ende Vierzig mit einem bereitwilligen Lächeln und wachen, intelligenten Augen.
»Diese Frau gibt uns Rätsel auf. Sie sah bei Gott nicht wie jemand aus, der einfach verschwindet, ohne vermißt zu werden. Wir hatten sowieso vor, eine DNS-Probe von ihr zu nehmen, bevor die Leiche zum Armenfriedhof geschafft wird. Es macht keinerlei Probleme, von Miss Collins ebenfalls eine Blutprobe abzunehmen und herauszufinden, ob möglicherweise eine Verwandtschaft besteht.«
»Genau das möchte Meghan tun.«
Die Sekretärin des Arztes saß an einem Schreibtisch in der Nähe des Fensters. Das Telefon klingelte, und sie nahm ab.
»Miss Collins ist unten.«
Es war mehr als das übliche ungute Gefühl, wenn einem der Anblick eines toten Körpers in der Leichenhalle bevorsteht, was Mac in Meghans Miene sah, als sie aus dem Lift heraustrat. Noch etwas anderes hatte zu dem Schmerz in ihren Augen, zu den tiefen Linien um ihre Mundwinkel beigetragen. Es schien ihm, daß sie ein Kummer erfüllte, der sich von der Trauer unterschied, mit der sie seit dem Verschwinden ihres Vaters lebte.
Doch sie lächelte, als sie ihn sah, ein schnelles, erleichtertes Lächeln. Sie ist so hübsch, dachte er. Ihr kastanienbraunes Haar bildete einen Wuschelkopf, ein Zeugnis des scharfen Nachmittagswindes. Sie trug ein schwarz-weißes Tweed-Kostüm und schwarze Stiefel. Die Jacke mit einem Reißverschluß reichte bis auf die Hüfte, der enge Rock bis zu den Waden. Ein schwarzer Rollkragenpulli unterstrich noch die Blässe ihres Gesichts.
Mac stellte sie Dr. Lyons vor. »Sie können sich das Opfer unten in der Halle genauer anschauen«, sagte Lyons.
Die Leichenhalle war antiseptisch sauber. Reihenweise bedeckten Schließfächer die Wände. Stimmengemurmel war von der geschlossenen Tür eines Raumes her zu hören, der ein fast drei Meter hohes Fenster zum Durchgang hin hatte. Die Vorhänge waren vor das Fenster gezogen. Mac war sich sicher, daß eine Obduktion durchgeführt wurde.
Ein Wärter führte sie den Zwischengang entlang bis fast zum Ende. Dr. Lyons nickte dem Mann zu, und er packte den Griff eines Schubfachs.
Geräuschlos glitt die Schublade heraus. Mac starrte auf den nackten, gekühlten Körper einer jungen Frau hinunter.
Eine einzelne tiefe Stichwunde war in ihrer Brust zu sehen. Schlanke Arme lagen zu ihren Seiten; die Hände waren geöffnet. Er blickte von der schlanken Taille zu den schmalen Hüften, langen Beinen, den Füßen mit dem hohen Spann. Endlich betrachtete er das Gesicht.
Das kastanienbraune Haar war an den Schultern verfilzt, aber er konnte es sich mit der gleichen windzerzausten Spannkraft wie Meghans Haar vorstellen. Der Mund, großzügig und mit der Verheißung von Wärme; die dichten Wimpern, die sich über die geschlossenen Augen wölbten; die dunklen Brauen, die eine hohe Stirn betonten.
Mac kam es vor, als hätte ihn ein harter Schlag in den Magen getroffen. Er fühlte sich benommen, ihm war übel und schwindelig. Das hier könnte Meg sein, dachte er, das hier war auf Meg abgezielt.
27
Catherine berührte den Knopf neben ihrer Hand, und das Krankenhausbett richtete sich geräuschlos auf, bis sie es in einer 45-Grad-Position anhielt. Schon seit einer Stunde nachdem das Lunchtablett entfernt worden war, versuchte sie zu schlafen, aber es war hoffnungslos. Sie ärgerte sich über sich selbst wegen ihres Verlangens, in den Schlaf zu flüchten. Es ist an der Zeit, dich dem Leben zu stellen, mein Mädchen, sagte sie sich streng.
Sie wünschte, sie hätte einen Rechner und die Kontobücher des Gasthofs dagehabt. Sie mußte selbst herausfinden, wie lange sie durchhalten konnte, bevor sie dazu gezwungen war, das Drumdoe zu verkaufen. Die Hypothek, dachte sie – diese verfluchte Hypothek! Pop hätte nie und nimmer so viel Geld in das Gasthaus gesteckt. Not macht erfinderisch, das war seine Parole gewesen, als er noch ein Grünschnabel war. Wie oft hatte sie das nicht zu hören bekommen?
Doch als er dann seinen Gasthof hatte und sein Haus, war er ein höchst großzügiger Ehemann und Vater.
Vorausgesetzt, daß man sich nicht geradezu lächerlich vergaloppierte, natürlich.
Und ich habe dieser Innenarchitektin lächerlich viel Spielraum eingeräumt, dachte Catherine. Aber das ist passe, und sich weiter aufzuregen hieße Wasser in den Hudson zu tragen.
Die Analogie ließ sie erschauern. Das Bild rief die grauenhaften Fotos ins
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