Das fremde Haus
Gesicht ist verzerrt, besonders der Mund. Zwischen den Lippen ist ihre Zungenspitze sichtbar. Ich höre mich Nein sagen, immer wieder Nein .
Jackie Napier. Der einzige andere Mensch, der es ebenfalls gesehen hat.
Ich zwinge mich näher zu treten, so nahe heran, wie ich es gerade noch ertragen kann. Ich bücke mich und berühre sie am Bein. Noch warm.
Schaudernd verlasse ich rückwärts den Raum. Das Telefon. Ruf die Polizei. Genau. Das werde ich jetzt tun: die Polizei rufen. Ich konzentriere mich auf mein Ziel und mache mich daran, den Flur zu durchqueren. Als ich näher an das Telefontischchen herankomme, sehe ich etwas, was mich erstarren lässt: die Handschrift meines Mannes auf einem der blutbespritzten Zettel, die auf dem Boden liegen.
Ich sinke auf die Knie, unfähig, aufrecht stehen zu bleiben. Ich begreife nicht, was ich da lese. Es ist ein Gedicht von einer Tilly Gilpatrick über einen Vulkan. Mit einem lobenden Kommentar darunter. Unter das Lob hat Kit geschrieben, dass das Gedicht furchtbar sei, sogar für eine Fünfjährige, und ein Gedicht daruntergeschrieben, das er besser findet: vier gereimte Strophen. Ich versuche, sie zu lesen, aber ich kann mich nicht konzentrieren.
Stück für Stück sammle ich die verstreuten Papiere auf. Alle sind rot gesprenkelt. Eine Einkaufsliste – E. bittet D., unter anderem gegrillte Artischocken zu besorgen, keine Dose Artischocken. Das »keine« in Großbuchstaben. Was gibt es sonst noch? Eine Kfz-Versicherungspolice. Wieder fällt mir der Name Gilpatrick ins Auge. Die genannten Fahrzeugnutzer sind Elise und Donal Gilpatrick.
E. und D.
Ein Dankesbrief an Elise, Donal, Riordan und Tilly für ein schönes Wochenende, ein alter Brief von einer zornigen Elise an eine gewisse Caroline, 1993 geschrieben, ein Gedicht von Riordan Gilpatrick über Kastanien, ein Berichtszeugnis von Riordan Gilpatrick, Tillys Schilderung von ein paar Kätzchen. Ich schiebe alles zur Seite und starre auf eine Nachricht von Selina Gane an Elise, die auf einen kleinen blauen Notizzettel geschrieben ist. Das Datum ist der 24. Juli. Heute . Hat sie es geschrieben, nachdem ich gegangen war? Auf dem Zettel ist kein Blut. Als ich ihn lese, werde ich mir eines dumpfen Gefühls hinter den Augen bewusst. Ich muss aufhören hinzusehen.
Wer sind diese Leute, die Gilpatricks? Was haben sie mit Kit zu tun?
Irgendwie gelingt es mir, wieder auf die Beine zu kommen. Als ich nach dem Telefon greife, fällt mein Blick auf ein anderes Blatt Papier, das daneben liegt. Wieder Kits Handschrift, aber diesmal nur eine Zeile, die sich ständig wiederholt. Die Tinte ist an manchen Stellen verwischt, als wären Wassertropfen darauf gefallen, als hätte jemand das Papier draußen im Regen liegen lassen.
Als hätte der Schreiber geweint, als er es schrieb.
Die Worte kommen mir bekannt vor. Ist es eine Zeile aus dem Gedicht, das Kit unter das Vulkangedicht der fünfjährigen Tilly geschrieben hat? Ich bücke mich und suche nach dem entsprechenden Blatt Papier. Da ist es. Ja. Aber warum hat Kit ausgerechnet diese eine Zeile dreizehn Mal hintereinander geschrieben? Was hat das zu bedeuten? Und von wem ist das Gedicht? Nicht von Kit. Er schreibt keine Gedichte, obwohl er oft welche zitiert – immer Gedichte, die sich reimen, verfasst von Leuten, von denen ich noch nie gehört habe und die seit Jahren tot sind.
Ich greife wieder nach dem Telefon. Als ich versuche, es mir ans Ohr zu halten, stelle ich fest, dass ich meinen Arm nicht bewegen kann. Jemand umklammert mein Handgelenk und zieht es nach hinten. Ich lasse das Telefon fallen, als Metall vor meinen Augen aufblitzt. Es leuchtet in dem Sonnenstrahl auf, der durch das Flurfenster hereinfällt. Ein Messer. »Töten Sie mich nicht«, sage ich automatisch.
»Du sagst das, als würde ich das wollen. Ich will das doch nicht.« Eine Stimme, die ich einmal geliebt habe. Die Stimme meines Mannes. Er hält mir das Messer an die Kehle, es zerquetscht meine Luftröhre.
»Warum?«, bringe ich heraus. »Warum wirst du mich umbringen?«
»Weil du mich kennst«, sagt Kit.
Asservaten-Nr. : CB13345/432/26IG
24. Juli 2010
Hi, Elise,
gerade ist mir klar geworden, dass ich dich seit Wochen nicht mehr gesehen habe, nicht mal im Vorübergehen. Donal und die Kinder auch nicht. Und (auf das Risiko hin, wie eine neugierige Nachbarin zu klingen!), die Vorhänge scheinen schon ziemlich lange zugezogen zu sein, oben wie unten. Ist alles in Ordnung mit Euch? Verbringt Ihr den Sommer in
Weitere Kostenlose Bücher