Das fremde Haus
ich Sam K. sagen, dass da noch etwas war, ich aber nicht weiß, was? Würde das etwas bringen?
»Eine Landkarte wovon?«, fragt er.
»Das konnte ich nicht erkennen – dafür war sie auf dem Foto zu klein. In der linken oberen Ecke waren Schilde – zehn vielleicht.«
»Schilde?«
»Wie umgedrehte Grabsteine.«
»Du meinst Wappenschilde?«, fragt Kit. »Du meinst, wie ein Familienwappen?«
»Ja.« Genau das ist es. Mir war das richtige Wort nicht eingefallen. »Die meisten waren farbig und gemustert, aber eins war leer – nur ein Umriss.«
War das leere Wappenschild das fehlende Detail? Ich könnte so tun, als wäre dem so, aber damit würde ich nur mir selbst etwas vormachen. Mein Gehirn hat noch irgendetwas anderes aufgenommen, das in diesem Zimmer war, aber es weigert sich, es wieder herzugeben.
»Noch irgendetwas?«
»Ja, eine tote Frau in ihrem Blut«, sage ich und ärgere mich über die Aggressivität in meiner Stimme. Warum bin ich so wütend? Weil du machtlos bist , würde Alice sagen. Wir produzieren Wut, um uns die Illusion von Macht zu geben, wenn wir uns schwach und hilflos fühlen . Endlich höre ich die Worte, auf die ich gewartet habe. »Beschreiben Sie die Frau«, sagt Sam K.
***
Worte beginnen aus mir herauszuströmen, eine unkontrollierbare Flut. »Als ich sie und all das Blut sah, als mir klar wurde, auf was ich da blickte, schaute ich an mir selbst hinunter – das war das Erste, was ich getan habe. Ich war in Panik. Eine Sekunde lang dachte ich, ich würde auf dem Monitor ein Bild von mir selbst sehen – ich blickte an mir hinunter, um festzustellen, ob ich blutete. Später konnte ich es nicht mehr begreifen – wie war ich darauf nur gekommen? Sie lag auf dem Bauch – ich konnte ihr Gesicht nicht sehen. Sie war klein und zierlich, so wie ich. Sie hatte dunkles Haar, genauso wie ich, und es war glatt, so wie meins. Es war … wirr, fächerförmig ausgebreitet, als wäre sie gestürzt und …« Ich schaudere und hoffe, dass ich es nicht auszusprechen muss: tote Frauen können ihre Frisur nicht mehr in Ordnung bringen.
»Ihr Gesicht konnte ich nicht sehen, und eine Sekunde lang, bis ich mich wieder zurechtfand, dachte ich, sie wäre ich, dass ich diejenige war, die dort lag. Hören Sie doch auf mitzuschreiben!«, höre ich mich sagen. Zu laut . »Können Sie nicht einfach zuhören und sich später Notizen machen?«
Sam K. legt Block und Stift hin.
»Ich will das nicht unnötig aufbauschen«, fahre ich fort. »Ich wusste, dass sie nicht ich war, natürlich wusste ich das, aber … es war, als hätte meine Wahrnehmung mir einen Streich gespielt. Es muss der Schock gewesen sein. Sie lag da in ihrem Blut, furchtbar viel Blut, mehr, als ich je gesehen habe. Es wirkte wie ein großer roter Teppich unter ihr. Erst dachte ich, Blut kann es nicht sein, weil es so viel war, die Lache bedeckte fast ein Drittel des Raums, aber dann dachte ich … Also, Sie wissen es ja sicher. Sie haben bestimmt schon Tote in ihrem Blut liegen sehen, Menschen, die verblutet sind.«
»Himmel, Con«, murmelt Kit.
Ich ignoriere ihn. »Wie viel Blut ist es denn normalerweise?«
Sam K. räuspert sich. »Ich habe es noch nicht mit eigenen Augen gesehen, aber was Sie da beschreiben, klingt nicht unplausibel für ein Verblutungs-Szenario. Wie groß ist das Wohnzimmer?«
»24,4 Quadratmeter.«
Er wirkt überrascht. »Das ist sehr genau.«
»Es steht auf dem Grundriss.«
»Auf der Roundthehouses-Seite?«
»Ja.«
»Wissen Sie von allen Räumen, wie viele Quadratmeter sie haben?«
»Nein. Nur vom Wohnzimmer.«
»Sag ihm, was du gestern Nacht getan hast, nachdem ich wieder ins Bett gegangen war«, fordert Kit.
»Erst habe ich Simon Waterhouse angerufen, und als ich ihn nicht erreichen konnte, habe ich Sie angerufen«, erkläre ich Sam K. »Nach dem Gespräch mit Ihnen bin ich wieder zu meinem Laptop zurück, um … mir Bentley Grove 11 noch einmal anzusehen. Ich habe jedes Foto genau studiert, ebenso den Grundriss. Ich habe mir das Video wieder und wieder angesehen.« Ja, genau. Hiermit erkläre ich mich für obsessiv und verrückt.
»Sechs Stunden lang, bis ich aufgewacht bin und sie vom Computer weggezerrt habe«, sagt Kit ruhig.
»Ich verließ das Internet und wählte mich wieder ein, immer wieder. Einige Male habe ich den Laptop ausgeschaltet, den Stecker rausgezogen, das Gerät wieder angeschlossen und neu gestartet. Ich … ich war erschöpft und konnte nicht mehr ganz klar denken, und … irgendwie
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