Das fremde Haus
sich schuldig. Nicht nur, dass er seine Familie an einem freien Tag im Stich ließ, sehr wahrscheinlich würde er zudem noch bei einer fremden Frau schmerzliche Erinnerungen aufrühren, und das aus keinem edleren Grund als der Befriedigung einer ungesunden Neugier.
Er blickte auf die Uhr. Sie war zehn Minuten zu spät dran. Sollte er anrufen? Nein, er würde bis Viertel nach warten. Vielleicht konnte er ja einen der Kellner bitten, die Musik leiser zu drehen. Wahrscheinlich sollte sie den Lärm aus der Spielecke übertönen, einem abgegrenzten Bereich, in dem sich plärrende, tränenverschmierte Kleinkinder, eine Handvoll Mütter mit starrem Lächeln, aus dem mühsam unterdrückte Wut sprach, wie Pilze geformte Tischchen und Stühlchen und eine Ansammlung von Plastikobjekten in Primärfarben befanden. Sam konnte den Kindern ihr Geschrei nicht verdenken. Wenn er sich noch mehr Def Leppard-Hits aus den Achtzigern anhören musste, würde er bald ihrem Beispiel folgen.
Er starrte aus dem Fenster auf den Parkplatz. Jede Sekunde konnte Alice in einen der leeren Plätze einbiegen. Vielleicht war sie die Frau, die gerade den Kofferraum eines roten Renault Clio zuknallte. Sonnenbrille, Riemchensandalen … Nein. Simon würde sich niemals in ein solches Gesicht verlieben. Ob Alice wohl Ähnlichkeit mit Charlie hatte? Und wenn ja, was dann? Und wenn nicht, was bedeutete das? Warum fand er bloß alles, was mit Simon zu tun hatte, so faszinierend? Er hätte nie irgendwelche Mühen auf sich genommen, um eine Frau kennenzulernen, in die Chris Gibbs mal verliebt gewesen war, oder Colin Sellers. Doch wenn er so darüber nachdachte, würde er wahrscheinlich tatsächlich eine zumutbare Entfernung zurücklegen, um die Frau zu sehen, die bei Colin kein Verlangen auslöste, vorausgesetzt, eine solche Person existierte überhaupt.
Beschämt über die eigenen lüsternen Gedanken, versuchte Sam, sich wieder auf Connie Bowskill zu konzentrieren. Nur um festzustellen, dass er schon wieder über Simon Waterhouse nachdachte. Es war nichts dabei, entschied er, nicht in diesem Zusammenhang. Simon war der beste Ermittler, den Sam kannte. Er war der beste Ermittler, den irgendjemand kannte, obwohl die meisten das nur ungern zugaben und es vorzogen, ihn als groben, unberechenbaren Unruhestifter abzutun. Am ersten Januar diesen Jahres, fünf Minuten nach Mitternacht, hatte Sam einen guten Vorsatz gefasst: anstatt sich Simon ständig unterlegen zu fühlen und zuzulassen, dass sich mehr und mehr Groll aufstaute, würde er versuchen, von ihm zu lernen. Er würde sein Ego zurückstellen und mal sehen, ob er sich durch Nachahmung – indem er Simons Verhalten und Einstellungen studierte, als würde er eines Tages eine Prüfung darüber ablegen müssen – einen Bruchteil dieser Brillanz aneignen konnte.
Simon hätte Connie Bowskills Geschichte nicht einfach so abgetan, da war Sam sich sicher. Aber hätte er ihr geglaubt? Wenn er an Sams Stelle gewesen wäre, wenn er Connie getroffen und sich angehört hätte, was sie zu sagen hatte, was würde er gedacht haben? Dass sie stressbedingt Dinge sah, die gar nicht da waren, oder wäre er überzeugt gewesen, dass sie log? Vielleicht hätte er auch gedacht: Die Geschichte ist so unwahrscheinlich, dass sie vermutlich wahr ist, weil nur wenige Leute die Chuzpe besitzen, eine so unverfrorene Lüge aufzutischen.
Du bist nicht Simon – das ist das Problem. Du hast keine Ahnung, was er denken würde.
Nein, das stimmte nicht. Man konnte nicht jahrelang so eng mit jemandem zusammenarbeiten, ohne eine Ahnung zu haben, wie er tickte. Es bestand zumindest die Möglichkeit, dass ein Verbrechen verübt worden war – davon würde auch Simon ausgehen. Wenn er Sam heute Morgen zu den Bowskills begleitet hätte, wäre er sicher zu der Überzeugung gelangt, dass in diesem Haus etwas ganz und gar nicht stimmte – in Melrose Cottage, nicht in Bentley Grove 11, Cambridge. Sam stimmte ihm zu, wenn man dem zustimmen kann, was man selbst einer abwesende Person in den Mund gelegt hat. Irgendwas ging da vor: Connie und Kit Bowskill hatten ihm nicht alles erzählt, längst nicht. Er hatte genug von dem Gespräch mitbekommen, das er nicht hatte hören sollen, um sicher zu sein, dass sie gemeinschaftlich darum bemüht waren, etwas vor ihm zu verbergen.
Die Vorstellung, jemand könne das Bild einer Toten auf die Internetseite eines Maklers stellen, war lachhaft. Mehr als verrückt. Im Geiste hörte er Simon sagen: »Verrückt muss
Weitere Kostenlose Bücher