Das fremde Haus
war. Vielleicht sind er und Selina Gane ja vorsichtig. Nein.« Das machte Simon oft, wenn er in seinem obsessiven Modus war: er widersprach sich selbst. »Sie haben keine romantische Beziehung. Das kann nicht sein. Also warum hat er ihre Adresse als Heimatort in sein Navi eingegeben?«
»Warum können Sie keine Beziehung haben?«, wollte Charlie wissen.
Sie verfolgte, wie Simon merkte, was er gerade gesagt hatte, und dass er ein bisschen zu sicher geklungen hatte. Er wirkte, als wäre er ertappt worden.
»Entschuldige, aber wolltest du mir nicht die ganze Geschichte erzählen?«, fragte sie. »Oder sparst du dir die Pointe für die zweite Woche auf?«
»Es ist etwas Merkwürdiges passiert, als ich mit Selina Gane sprach«, sagte Simon.
»Noch merkwürdiger, meinst du wohl. Alles an dieser Sache ist merkwürdig.«
»Ich habe ihr das Foto gezeigt und zog eine Niete. Sie ist keine gute Lügnerin – das konnte ich etwa zehn Sekunden später feststellen –, also bin ich mir ziemlich sicher, dass die fehlende Reaktion auf das Foto echt war. Kit Bowskills Gesicht sagte ihr gar nichts. Dann steckte ich das Foto wieder ein und fragte nach dem Namen: ›Kennen Sie Kit Bowskill‹? Sie verneinte. ›Wer ist sie‹?, wollte sie wissen. ›Ich habe noch nie etwas von ihr gehört‹.«
»Na ja.« Charlie gähnte. »Kit könnte ebenso gut ein Frauenname sein.« Die Hitze hatte einen sedierenden Effekt. Wie schafften die Leute es nur, in diesem Klima zu arbeiten? Wenn ich in Spanien leben würde, müsste ich eine Katze sein, dachte sie.
»Als ich Selina Gane sagte, dass Kit Bowskill ein Mann sei, ging etwas in ihrem Gesicht vor«, sagte Simon.
Charlie konnte nicht widerstehen. »Hast du einen Berg darin gesehen?«
»Sie war überrascht – sogar geschockt. Da war etwas in ihren Augen – ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll – ein Aufflammen von: ›Nein, das kann nicht stimmen‹. Man konnte praktisch sehen, wie sie ihre Annahmen korrigierte. Als ich sie danach fragte, machte sie dicht, aber es war offensichtlich, dass sie log.«
»Das ist sonderbar«, bestätigte Charlie. »Also …« Einen Moment lang bekam sie es nicht zu fassen. Niemand sollte im Urlaub so angestrengt nachdenken müssen. »Also, sie kannte sein Gesicht nicht, und sie kannte den Namen nicht. Wieso also …« Endlich kam ihr sonnenverbranntes Gehirn auf die Frage, nach der es so mühsam gesucht hatte. »Warum also war sie sich so sicher, dass Kit Bowskill eine Frau ist?«
***
Als Sam in den Kripo-Raum zurückkehrte, war von Sellers oder Gibbs nichts zu sehen. Auch Prousts Büro war leer.
Sam checkte seine Mails. Er hatte sieben neue Mails, von denen fünf den Eindruck erweckten, als könnten sie getrost vernachlässigt werden; die beiden anderen waren von DC Ian Grint und Olivia Zailer, Charlies Schwester. Sam öffnete die Mail von Grint, der vergebens versucht hatte, ihn zu erreichen. Nach der erschöpfenden Sitzung mit Connie Bowskill fehlte Sam die Energie, sofort zurückzurufen. Er kam sich vor wie ein unbezahlter Seelenklempner. Noch so eine Sitzung, und er würde selbst einen Psychiater aufsuchen müssen. Grint wollte ihm wahrscheinlich die aktuelle Telefonnummer der Beaters mitteilen, der Vorbesitzer von Bentley Grove 11. Sam hatte irgendwann darum gebeten, weil er sie selbst zu dem Weihnachtsbaum-Fleck auf dem Teppichboden befragen wollte. Er lächelte in sich hinein. Grint hielt ihn wahrscheinlich für verrückt, und wenn er das tat, konnte Sam ihm keine Vorwürfe machen.
Die Mail von Olivia enthielt eine Kette verwirrender Instruktionen, doppelter Verneinungen und verschleierter unspezifischer Anschuldigungen – »Ich sage nicht, dass Sie es tun sollten oder nicht tun sollten …«, »Bitte tun Sie es nicht, oder vielmehr, tun Sie es nur, wenn es wirklich unbedingt sein muss …«, »Ich habe lange darüber nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich Ihnen die Nummer nicht einfach nicht geben kann …«, »Es gibt ja niemanden sonst, der es Ihnen sagen könnte …«, und am Schluss ihrer Mail verriet sie Sam, wie er Simon erreichen konnte. Er hätte viel darum gegeben, sich nicht in der Lage zu befinden, in der er sich jetzt befand. Es war unverzeihlich, jemanden in den Flitterwochen zu stören, und sei es auch nur mit einem kurzen Telefonat. Das, musste er zugeben, so kurz nun auch wieder nicht ausfallen würde. Es gab so vieles, das er Simon fragen und das er ihm berichten wollte, er wusste gar nicht, wo er anfangen
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