Das Fremde Mädchen
helles Auge im Dunkel, ein kleines, rotes Feuer, das jedoch keine Wärme spendete. Die Stille schleppte sich Stunde um Stunde dahin, ab und zu durch winzige Geräusche unterbrochen, wenn Haluin schwer atmete oder seine Gebete flüsterte, doch waren diese Bewegungen eher zu spüren als wirklich mit den Ohren zu hören. Aus einer unerschöpflichen Quelle in seinem Innern drang ein unablässiger Strom von Worten hervor, die im Gedenken an seine tote Bertrade gesagt werden wollten. Spannung und Leidenschaft hielten ihn aufrecht und ließen ihn zunächst die Schmerzen vergessen.
Schon vor Mitternacht aber wurden die Schmerzen stärker und hielten ihn in ihrem Bann, bis seine Meditation und sein Opfergang am Morgen im ersten Tageslicht beendet waren.
Als er endlich dem frostigen Morgen die Augen öffnete und mühsam die kalten, verkrampften Hände voneinander löste, waren draußen schon die üblichen frühen Geräusche eines Landgutes zu hören. Haluin starrte benommen in den erwachenden Tag hinaus und kehrte allmählich von einem weit entfernten Ort tief in ihm selbst in die Welt zurück. Er wollte sich bewegen, wollte die Kante des Steins fassen, doch seine Finger waren taub und gefühllos und seine Arme so steif, daß sie ihm beim Aufstehen keine Hilfe waren. Cadfael legte einen Arm um ihn und wollte seinem Bruder helfen, aber Haluin konnte die steifen Knie nicht bewegen und vermochte nicht den besseren Fuß auf den Boden zu stemmen. Wie ein totes Gewicht hing er in Cadfaels Armen. Doch plötzlich waren leichte Schritte zu hören, ein weiterer Arm, jung und kräftig, legte sich von der anderen Seite um den hilflosen Körper, und neben Haluins Schultern tauchte ein heller Schopf auf. Von beiden Seiten gestützt, kam Haluin auf die Beine und wurde aufrecht gehalten, bis das Blut schmerzhaft in seine tauben Beine geströmt war.
»In Gottes Namen, Mann«, sagte der junge Roscelin ungeduldig, »müßt Ihr denn wirklich so hart mit Euch sein, wo Ihr doch schon mehr zu tragen habt als mancher andere?«
Haluin war zu erschrocken und innerlich noch zu entrückt, um zu begreifen, was ihm da gesagt wurde, ganz zu schweigen davon, eine Antwort zu geben. Und auch wenn Cadfael dem jungen Mann innerlich zustimmen mußte, sagte er laut: »Haltet ihn nur gut fest, während ich seine Krücken hole. Gott sei Dank, daß Ihr im rechten Augenblick gekommen seid, aber scheltet ihn nicht, Ihr würdet nur Euren Atem verschwenden. Er hat ein Gelübde abgelegt.«
»Ein närrisches Gelübde!« sagte der Junge mit der Hoffart der Jugend. »Wem ist damit gedient?« Trotz der Mißbilligung hielt er Haluin freundlich fest und warf ihm einen schrägen Blick zu, der zugleich ängstlich und verzweifelt schien.
»Ihm selbst«, gab Cadfael zurück, während er die Krücken in Haluins Achselhöhlen schob und die kalten Hände zu massieren begann, die immer noch nicht zupacken konnten.
»Kaum zu glauben, aber Ihr müßt es respektieren. So, jetzt kann er sich auf die Krücken stützen, aber Ihr müßt ihn noch halten. Seid froh über Eure jungen Jahre, Ihr könnt ruhig schlafen, Ihr habt nichts zu bedauern und nichts, wofür Ihr um Vergebung bitten müßtet. Wie kommt es überhaupt, daß Ihr im richtigen Augenblick an Ort und Stelle wart?« fragte er, indem er den jungen Mann interessiert und eingehend musterte.
»Wurdet Ihr geschickt?«
Unwahrscheinlich, denn Adelais würde kaum einen so jungen, offenen und unschuldigen Helfer benutzen, um sich ihrer unwillkommenen Gäste möglichst schnell zu entledigen.
»Nein«, sagte Roscelin kurz angebunden, fügte dann aber etwas freundlicher hinzu: »Ich war einfach neugierig.«
»Das ist menschlich und verständlich«, gab Cadfael zu, der sich diese Sünde auch selbst oft zuschulden kommen ließ.
»Heute morgen hatte Audemar für mich nichts weiter zu tun, er unterhält sich mit seinem Verwalter. Sollten wir Euren Mitbruder nicht in Eure Gemächer bringen, wo er es wärmer hat? Aber wie? Wenn wir ihn hinaufbekommen, kann ich ein Pferd besorgen.«
Haluin war inzwischen von seinem entfernten Ort zurückgekehrt. Behandelt, als hätte er keinen eigenen Willen und sei sich seiner Umgebung nicht bewußt, setzte er sich nun instinktiv gegen diese Demütigung zur Wehr. »Nein«, sagte er.
»Ich danke Euch, aber ich kann jetzt gehen. Ich will Eure Freundlichkeit nicht weiter in Anspruch nehmen.« Er beugte die Hände, packte die Griffe der Krücken und machte die ersten vorsichtigen Schritte zum Ausgang.
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