Das Fremde Mädchen
niemand seine Nachtwache stört oder ihm Fragen stellt. Ihr wißt ja, keine Menschenseele außer uns, die schon eingeweiht sind, soll etwas erfahren. Sagt es ihm noch einmal. Was nun noch bleibt, geht nur ihn selbst und Gott etwas an.«
Der Herr des Hauses ritt gerade zum Tor herein, als Cadfael zu der Hütte zurückkehrte, in der Haluin schlief. Das Klirren von Geschirr und Hufen und die Stimmen eilten der Kavalkade voraus, ein lebhaftes Geräusch, das die Burschen und Diener aufscheuchte wie einen Bienenschwarm. Sie hielten sich bereit, ihm aufzuwarten, und da kam er auch schon, Audemar de Clary, auf einem großen Braunen hereingeritten. Er war ein großer Mann, in schlichte, dunkle und schmucklose Reitkleider gehüllt.
Er brauchte keine Abzeichen, um seine Autorität zu unterstreichen. Er ritt mit unbedecktem Kopf, die Kapuze seines kurzen Mantels war auf die Schultern zurückgeworfen. Das volle Kraushaar war dunkel wie das seiner Mutter, die kräftigen Gesichtsknochen dagegen, die große Nase, die vorspringenden Wangenknochen und die hohe Stirn hatte er von seinem Kreuzfahrervater.
Er war, dachte Cadfael, bestimmt noch keine vierzig Jahre alt. Die kraftvollen Bewegungen, mit denen er abstieg, die federnden Schritte, die Gesten, mit denen er die Handschuhe abstreifte, all dies verriet seine Jugend. Doch sein beeindruckendes Gesicht, der Eifer, mit dem ihm alle dienten, die Effizienz seiner Regentschaft hier und die prompte, kundige Hilfe, die er erwartete und bekam, all dies ließ ihn älter scheinen, als er an Jahren war. Während der langen Abwesenheit seines Vaters, erinnerte Cadfael sich, war er hier der Herr gewesen. Schon früh, vermutlich vor seinem zwanzigsten Lebensjahr, hatte er diese Aufgabe übernommen, und die de Clarys hatten viele und weit verstreute Landgüter. Er hatte sein Geschäft gut gelernt. Kein Mann, dem man gern im Weg stehen wollte, aber niemand hier schien ihn zu fürchten.
Fröhlich näherten sich ihm die Bediensteten und sprachen ihn ohne Furcht an. Sein Zorn, wenn er berechtigt war, mochte beängstigend und sogar gefährlich sein, aber er war zweifellos ein gerechter Mann.
Ein junger Mann, ein Page oder ein Knappe, ritt dicht an seiner Seite. Es war ein siebzehn-oder achtzehnjähriger Bursche mit frischem, von der Luft und der Anstrengung gerötetem Gesicht. Nach ihnen kamen zwei Treiber zu Fuß, die Jagdhunde an der Leine führten. Audemar gab einem Burschen, der herbeigerannt kam, seine Zügel, und stampfte mit den Stiefeln auf, während er dem jungen Mann auch seinen Mantel reichte. Nach wenigen Minuten war alles vorbei, die Pferde wurden über den Hof in die Ställe geführt, die Hunde wurden in ihren Zwingern untergebracht. Der junge Luc kam aus dem Ställen herbei und sprach mit Audemar, anscheinend überbrachte er ihm eine Nachricht von Adelais, denn Audemar blickte sofort zu den Gemächern der Dame, nickte verstehend und ging zu ihrer Türe hinüber. Unterwegs fiel sein Blick auf Cadfael, der diskret zur Seite getreten war. Einen Moment hielt er inne, als wollte er stehenbleiben und mit Cadfael reden, doch dann überlegte er es sich anders und ging weiter zum Haus seiner Mutter.
Wenn man berücksichtigte, um welche Zeit Cadfael sie, die beiden Burschen und ihr Mädchen im Wald beobachtet hatte, mußte Adelais vor zwei Tagen hier angekommen sein. Sie hatten nicht zwischen Chenet und Elford übernachten müssen, weil sie die Distanz mit ihren Pferden mühelos an einem Tag bewältigen konnten. Deshalb hatte sie wahrscheinlich ihren Sohn schon einmal gesehen und gesprochen. Was sie ihm nun zu sagen hatte, nachdem er von seinem Ausritt zurückgekehrt war, mußte sich auf die Neuigkeiten beziehen, die erst an diesem Tag Elford erreicht hatten. Und was gab es Neues außer den beiden Mönchen aus Shrewsbury, die in der Kirche ihre Nachtwache halten wollten – ein Thema, das sie natürlich sehr diskret mit ihm besprechen mußte. Denn er war hier in Elford gewesen, als seine Schwester in Hales angeblich – auch für ihn? – an einem Fieber starb. Mehr hatte er wahrscheinlich nie darüber erfahren, ein trauriger Tod mit klarer Ursache, der auch junge Menschen treffen konnte. Nein, diese starke, entschlossene Frau hatte ihren Sohn sicher nicht eingeweiht.
Eine alte, vertraute und verschwiegene Dienerin vielleicht. Sie hatte gewiß eine solche Dienerin gebraucht und auch gehabt, die heute vermutlich tot war. Aber ihr junger Sohn, nein, niemals.
Und wenn dem so war, dann war es
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