Das Fremde Mädchen
hielten sich dicht an seiner Seite, falls er stürzte. Roscelin ging als erster die flachen Stufen hinauf, um ihm hinaufzuhelfen, Cadfael ging dicht hinter ihm, um ihn aufzufangen, falls er rückwärts fiele. Doch Haluin war von neuer Willenskraft erfüllt, nachdem er sein Vorhaben erfolgreich abgeschlossen hatte, und er schien fest entschlossen, diesen Gang allein zu tun, wie hoch der Preis auch wäre. Außerdem hatten sie keine Eile. Wann immer er wollte, konnte er auf seinen Krücken ausruhen und Atem holen, und genau dies tat er dreimal, bis sie Audemars Hof erreichten, auf dem schon viele Menschen zwischen Bäckerei und Ställen und Brunnen unterwegs waren. Es sprach sehr für die Klugheit und den Charakter des jungen Roscelin, daß er die Pausen, die Haluin einlegte, ohne Kommentar oder Ungeduld hinnahm und erst dann seine Hand zur Hilfe reichte, wenn er darum gebeten wurde. So erreichte Haluin, wie er es gewünscht hatte, auf seinen eigenen, mißgestalteten Füßen die Unterkunft, die man ihnen in Audemars Hof zugewiesen hatte, und konnte sich mit dem Gefühl ins Bett legen, erreicht zu haben, was er erreichen wollte.
Roscelin folgte ihnen, immer noch neugierig, und hatte es nicht eilig, sich seinen sonstigen Pflichten zuzuwenden. »Ist das nun alles?« fragt er, als Haluin seine noch tauben Glieder dankbar auf dem Bett ausstreckte und von Cadfael zugedeckt wurde. »Wohin geht Ihr, wenn Ihr uns verlaßt? Und wann wollt Ihr aufbrechen? Doch nicht etwa heute noch?«
»Wir müssen nach Shrewsbury zurück«, erklärte Cadfael, »aber heute wohl nicht mehr. Es wäre sicher klug, einen Tag auszuruhen.« Haluins müdes, entspanntes Gesicht und der weiche, nach innen gekehrte Blick sagte ihm, daß sein Gefährte bald einschlafen würde, und es würde der ruhigste und verdienteste Schlaf seit seiner Beichte werden.
»Ich sah Euch gestern mit Eurem Herrn Audemar hereinreiten«, fuhr Cadfael fort, während er das junge Gesicht betrachtete. »Die Herrin erwähnte übrigens Euren Namen. Seid Ihr mit den de Clarys verwandt?«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Nein. Mein Vater ist Pächter und Vasall, sie sind schon lange gute Freunde, und vor einiger Zeit gab es auch eine eheliche Verbindung. Nein, ich kam auf Befehl meines Vaters in Audemars Dienste.«
»Aber nicht auf eigenen Wunsch«, sagte Cadfael, der den Widerwillen des Jungen spürte.
»Nein! Sogar gegen meinen Wunsch!« sagte Roscelin heftig.
Er starrte düster auf die Dielenbretter zwischen seinen Stiefeln.
»Allem Anschein nach ist er aber ein so guter Herr, wie man ihn sich nur wünschen kann«, wandte Cadfael freundlich ein.
»Sicher besser als die meisten anderen.«
»Das ist er«, räumte der Junge gerechterweise ein. »Über ihn kann ich mich nicht beklagen. Aber ich bin zornig, weil mein Vater mich herschickte, um mich aus dem Haus zu bekommen, und das ist die Wahrheit.«
»Warum nur«, wunderte sich Cadfael, seine Neugierde zeigend, ohne eine direkte Frage zu stellen, »sollte ein Vater auf die Idee kommen, Euch loswerden zu wollen?« Immerhin war der Junge ein sehr ansehnlicher Sohn, aufrecht, gut gebaut, gut erzogen und gewinnend mit seinem schönen Haar und seinem glatten Gesicht. Ein Sohn, den jeder Vater gern vor Freunden hergezeigt hätte. Selbst so düster, wie es jetzt war, wirkte sein Gesicht noch angenehm. Aber es war klar, daß der Junge in seinem Dienst keine Freude fand.
»Er hat seine Gründe«, erwiderte Roscelin traurig. »Gute Gründe, würdet Ihr sogar sagen, das weiß ich. Und ich bin ihm nicht so entfremdet, daß ich ihm den gebührenden Gehorsam verweigern könnte. Also bin ich hier und muß bleiben, bis mein Herr und mein Vater mir erlauben, meinen Abschied zu nehmen. Ich bin nicht so dumm, daß ich nicht wüßte, ich könnte es schlimmer treffen. Also mache ich das Beste daraus, während ich hier bin.«
Anscheinend wandte sich sein Geist nun anderen, ernsteren Dingen zu, denn er schwieg eine Weile und starrte mit gerunzelter Stirn seine gefalteten Hände an. Dann blickte er auf, sah Cadfael offen ins Auge und betrachtete die schwarze Kutte und die Tonsur.
»Bruder«, sagte er plötzlich, »ich habe mir hin und wieder Gedanken über das Leben der Mönche gemacht. Manche Männer nahmen dieses Leben doch auf sich, weil sie das, was ihnen am wichtigsten war, nicht bekommen konnten, weil es ihnen verboten war. Ist das wahr? Kann es ein Leben sein, wenn... wenn das Leben einen Mann verstößt?«
»Ja«, sagte Bruder Haluin,
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