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Das Fremde Mädchen

Das Fremde Mädchen

Titel: Das Fremde Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellis Peters
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ovalen Gesicht und den weit auseinanderliegenden, offenen, zugleich tapferen und verletzlichen Augen. In Gestalt und Bewegungen waren sie einander jedoch sehr ähnlich. Wenn sie ihm wieder den Rücken gewandt hätte, dann wäre sie wieder zum Bild ihrer Tochter geworden.
    Denn wer sonst konnte dies sein, wenn nicht die verwitwete Mutter, die lieber in Polesworth den Schleier genommen hatte, als sich in eine zweite Ehe drängen zu lassen? Wer sonst außer Schwester Benedicta, vom Bischof ins neue Kloster geschickt, um die Tradition zu sichern und den jungen Nonnen von Farewell als Beispiel zu dienen? Schwester Benedicta, die Blumen zum Wachsen bringen und Vögel auf ihre Hand locken konnte. Helisende mußte vom Umzug gewußt haben, auch wenn die anderen in Vivers nichts erfahren hatten. Helisende mußte gewußt haben, wo sie in ihrer Not Zuflucht finden konnte. Zu wem sollte sie gehen, wenn nicht zu ihrer Mutter?
    Er hatte sich so auf die Frau im Garten konzentriert, daß er nicht mehr auf Geräusche in der Kirche gelauscht hatte. Erst als er das Tappen der Krücken auf den Steinplatten in der Türe hörte, fuhr er fast schuldbewußt herum und wollte sich wieder seiner Aufgabe widmen. Haluin war irgendwie ohne seine Hilfe auf die Beine gekommen und trat nun neben Cadfael. Erfreut blickte er in den Garten hinaus, in dem das Sonnenlicht gerade die feuchten Schatten vertrieb.
    Als sein Blick die Nonne erfaßte, blieb er abrupt stehen und schwankte auf seinen Krücken. Cadfael sah, wie er die dunklen Augen aufriß und wie gebannt auf die Schwester richtete. Sein Starren schien Löcher in die stille Morgenluft zu brennen. Fast geräuschlos bewegten sich seine Lippen und bildeten langsam die Silben eines Namens. Fast unhörbar, aber nur fast, denn Cadfael verstand das Wort.
    Verwundert, freudig und schmerzvoll, getrieben und erschüttert von religiöser Verzückung, flüsterte Bruder Haluin nur ein Wort: »Bertrade!«

11. Kapitel
    Er hatte den Namen richtig verstanden, und die Sicherheit, mit der er geflüstert worden war, ließ keinen Zweifel. Wenn Cadfael auch einen Augenblick Vernunft walten ließ und es einfach nicht glauben wollte, im nächsten Moment warf er die Vernunft über Bord und gab sich seiner Erleichterung hin.
    Haluin hatte keine Zweifel und keine Fragen. Er wußte, was er sah, für ihn war es die Wahrheit, und er hatte den einzigen, den richtigen Namen genannt. Nun stand er da, in seinem Staunen verloren, zitternd angesichts der Bedeutung dieses Anblicks.
    Bertrade!
    Der erste Anblick ihrer Tochter war ihm ins Herz gefahren, jener jüngeren Frau mit dem Licht im Rücken, die ihrer Mutter als Schattenriß so ähnlich gesehen hatte. Doch sobald Helisende ins Licht der Fackeln vorgetreten war, hatte sich die Vision aufgelöst. Es war ein Mädchen, das er nicht kannte. Nun war sie wieder da, aber als sich die Frau umdrehte, erkannte er ohne jeden Zweifel das Gesicht, an das er sich so schmerzlich erinnerte.
    Also war sie doch nicht gestorben. Cadfael bemühte sich, diese Neuigkeit zu verarbeiten. Das Grab, das Haluin aufgesucht hatte, war eine Täuschung. Sie war nicht an dem Trank gestorben, der ihr Kind töten sollte, sie hatte dieses Verhängnis und diesen Kummer überlebt und einen älteren Mann geheiratet, einen Vasallen und Freund der Familie ihrer Mutter, und ihm eine Tochter geboren, die in Körperbau und Bewegungen ihr Ebenbild war. Nach Kräften hatte sie sich bemüht, eine treue Frau und Mutter zu sein, solange ihr alter Mann lebte, aber nach seinem Tod hatte sie der Welt den Rücken gekehrt und war ihrem ersten Geliebten ins Kloster gefolgt, hatte sich für den gleichen Orden entschieden und den Namen des Gründers angenommen, um sich für den Rest ihres Lebens an die Disziplin zu binden, in die Haluin getrieben worden war.
    Warum aber, meldete sich ein Quälgeist in Cadfaels Kopf zu Wort, warum hast du – du selbst und nicht Haluin! – im Gesicht des Mädchens in Vivers etwas unerklärlich Vertrautes gesehen? Wer verbarg sich da tief in den Kavernen der Erinnerung und wollte sich nicht zu erkennen geben? Das Mädchen hast du noch nie gesehen, du hast noch nie einen Blick auf ihre Mutter geworfen. Wer da aus Helisendes Augen herausgeschaut hatte, bevor der Schleier gefallen war, das war nicht Bertrade de Clary gewesen.
    In wenigen Augenblicken huschten diese Gedanken durch seinen Kopf, im kurzen Moment, bevor Helisende selbst aus den Schatten des Westflügels trat und in den Garten herauskam, um

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