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Das Fremde Mädchen

Das Fremde Mädchen

Titel: Das Fremde Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellis Peters
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sich zu ihrer Mutter zu gesellen. Sie hatte keine Kutte angelegt, sie trug noch das Kleid, das sie am Abend zuvor am Tisch ihres Bruders getragen hatte. Bleich und ernst war sie, doch die Ruhe des Klosters tat ihr gut. Hier war sie vor allen Zwängen sicher und hatte Zeit, nachzudenken und sich zu beraten.
    Die beiden Frauen begrüßten sich, und die Säume ihrer Röcke zogen zwei dunkle Spuren ins Silbergrün des feuchten Grases. Sie wandten sich gemächlich wieder zur Tür, aus der Helisende getreten war, um hineinzugehen und mit den anderen Schwestern an der Prim teilzunehmen. Sie entfernten sich, sie würden verschwinden, nichts würde geklärt, nichts aufgelöst, nichts offengelegt werden! Immer noch schwankte Haluin auf seinen Krücken, gebannt und sprachlos. Er würde sie wieder verlieren, sie war schon fast außer Sicht. Die beiden Frauen hatten den westlichen Gang erreicht, einen Moment noch, und sie wäre ihm abermals geraubt.
    »Bertrade!« rief Haluin voller Angst und Verzweiflung.
    Der Ruf erreichte sie, hallte entsetzlich laut zwischen den Mauern und ließ die Frauen erschrocken zur Kirchentür herumfahren. Haluin atmete schwer ein und riß sich aus seiner Benommenheit. Hastig stürzte er in den Garten und riß mit seinen Krücken Löcher ins weiche Gras.
    Der Anblick eines unbekannten Mannes, der auf sie losstürmte, ließ die Frauen unwillkürlich zurückweichen, doch beim zweiten Blick erkannten sie seine Kutte und sahen, wie traurig er verkrüppelt war. Sie machten sogar einige Schritte, um ihm entgegenzugehen. Einen Augenblick lang war es nichts weiter als Mitleid mit einem Lahmen. Dann aber änderte sich alles.
    Er hatte es viel zu eilig gehabt, sie zu erreichen. Er stolperte, verlor einen Augenblick das Gleichgewicht und wäre fast gefallen, aber das Mädchen sprang voller Mitgefühl los und hielt ihn am Arm fest. Als er mit seinem vollen Gewicht in ihre Arme sank, schwankten sie beide, doch beinahe Wange an Wange fingen sie sich wieder. Cadfael sah die beiden Gesichter einen Augenblick dicht an dicht nebeneinander und erschrak. Doch dann ging ihm ein Licht auf, und er kniff staunend die Augen zusammen.
    Jetzt wußte er endlich die Antwort. Jetzt wußte er alles, was es zu wissen gab, nur nicht, welche Bitterkeit einen Menschen dazu treiben konnte, einem anderen etwas so Gemeines und Grausames anzutun. Aber auch diese Antwort würde er bald finden.
    Bertrade de Clary starrte den Fremden einen Moment an, erkannte ihn als den Mann, der ihr alles andere als fremd war, und nannte seinen Namen:
    »Haluin!«
    Weiter geschah zunächst nichts. Nur ihre Blicke trafen sich.
    Sie erkannten und verstanden einander und sahen die alten Fehler und Schmerzen, die damals nie ganz verstanden worden waren. Bitter und schrecklich war es für einen Augenblick, aber dann empfanden sie nur noch Dankbarkeit und Freude. Einen kleinen Moment noch standen die drei stumm und reglos beisammen und starrten einander an, dann hörten sie die kleine Glocke im Dormitorium zur Prim läuten.
    Gleich würden die Schwestern über die Nachttreppe herunterkommen, um in einer Prozession zur Kirche zu ziehen.
    Weiter konnten sie im Augenblick nichts tun, nicht jetzt. Die Frauen zogen sich mit staunenden Blicken zurück und machten sich auf, dem Ruf zu folgen und sich zu ihren Schwestern zu gesellen. Cadfael lief von der Kirchentür hinüber, um Haluin am Arm zu nehmen und ihn wie ein schlafwandelndes Kind sanft zum Gästehaus zurückzuführen.
    »Sie ist nicht tot!« sagte Haluin, der steif wie ein Brett auf der Bettkante saß. Immer wieder sprach er zu sich selbst, fast im Singsang, von dem Wunder, das er gesehen hatte: »Sie ist nicht tot! Es war falsch, falsch! Sie ist nicht gestorben.«
    Cadfael schwieg sich aus. Noch war es nicht an der Zeit, alles auszusprechen, was hinter dieser Offenbarung steckte.
    Für den Augenblick konnte Haluins schockierter Verstand nicht weiter blicken als bis zu dieser Tatsache und bis zur Freude darüber, daß sie lebendig und wohlbehalten in einem sicheren Hafen gelandet war, nachdem er sie so lange für tot gehalten hatte, gestorben durch seinen schlimmen Fehler. Verwirrt und verletzt fragte er sich, warum er sie so lange betrauert und nie etwas erfahren hatte.
    »Ich muß mit ihr sprechen«, sagte Haluin. »Ich kann nicht gehen, ohne mit ihr gesprochen zu haben.«
    »Das sollt Ihr auch nicht«, versicherte Cadfael ihm.
    Jetzt war es nicht mehr zu vermeiden, alles mußte herauskommen. Sie waren sich

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