Das Fremde Mädchen
begegnet, sie hatten einander gesehen, und das konnte niemand ungeschehen machen. Die versiegelte Schatzkiste war aufgesprungen, die Geheimnisse purzelten nur so heraus, und niemand konnte über ihnen wieder den Deckel schließen.
»Wir können heute noch nicht aufbrechen«, fuhr Haluin fort.
»Das werden wir auch nicht. Wartet nur geduldig«, sagte Cadfael. »Ich werde die Äbtissin um eine Audienz bitten.«
Die Äbtissin von Farewell, die Bischof de Clinton aus Coventry in das neu gegründete Kloster geschickt hatte, war eine plumpe, rundliche Frau von über vierzig Jahren mit einem pausbäckigen, roten Gesicht und listigen braunen Augen, die auf einen Blick ausloten und bewerten konnten und sich ihres Urteils sicher waren. In makelloser Haltung saß sie aufrecht auf einer ungepolsterten Bank in einem kleinen, spartanischen Sprechzimmer. Sie schloß das Buch auf dem Tisch, als Cadfael eintrat.
»Ihr seid mehr als willkommen, Bruder, und was unser Haus Euch bieten kann, soll Euch gehören. Wie Ursula mir sagte, kommt Ihr aus der Abtei von St. Peter und St. Paul in Shrewsbury. Ich wollte Euch und Euren Gefährten ohnehin zum Essen einladen, was ich hiermit auch tue. Aber wie ich hörte, habt Ihr um ein Gespräch gebeten und seid mir damit zuvorgekommen. Ich nehme an, es gibt dafür einen Grund.
Setzt Euch, Bruder, und sagt mir, was ich für Euch tun kann.«
Cadfael setzte sich neben sie und überlegte, wieviel oder wie wenig er erzählen konnte. Sie war eine Frau, die durchaus zwischen den Zeilen zu lesen wußte, die aber, so nahm er an, peinlich auf Diskretion achtete und für sich behielt, was sie gelesen hatte.
»Ehrwürdige Mutter, ich bin gekommen, um Eure Zustimmung für ein Gespräch unter vier Augen zwischen meinem Bruder Haluin und Eurer Schwester Benedicta zu erbitten.«
Er sah, wie sie die Augenbrauen hob, doch die kleinen hellen Augen darunter blieben unbeeindruckt und blickten ihn forschend an.
»In ihrer Jugend«, fuhr Cadfael fort, »waren sie miteinander gut bekannt. Er stand in den Diensten ihrer Mutter, und da sie so eng im Haus zusammenlebten und im gleichen Alter waren, der Junge und das Mädchen, verliebten sie sich ineinander.
Haluins Werbung entsprach aber nicht den Wünschen der Mutter, und sie gab sich alle Mühe, die beiden zu trennen.
Haluin wurde aus ihren Diensten entlassen, und ihm wurde jeder Umgang mit dem Mädchen verboten, das gezwungen wurde, eine Ehe zu schließen, die ihrer Familie genehm war.
Zweifellos kennt Ihr ihre spätere Geschichte. Haluin trat in unser Haus ein, zugegebenermaßen aus den falschen Gründen. Es ist nicht gut, sich aus Verzweiflung dem spirituellen Leben zuzuwenden, aber wie wir wissen, haben es viele getan und waren dennoch später ihren Häusern treue und ehrbare Mitglieder. So ist es bei Haluin, und zweifellos auch bei Bertrade de Clary.«
Er sah ein Funkeln in ihren Augen, als er den Namen erwähnte. Es gab nicht viel, was sie über ihre Schäfchen nicht wußte, aber wenn sie mehr über diese Frau wußte, als er gesagt hatte, dann gab sie es mit keiner Silbe zu erkennen. Sie akzeptierte es, wie er es gesagt hatte.
»Anscheinend«, erklärte sie nun, »könnte sich die Geschichte, die Ihr mir erzählt habt, in einer anderen Generation wiederholen. Die Umstände sind zwar nicht dieselben, aber der Ausgang könnte der gleiche sein. Ich glaube, wir sollten beizeiten überlegen, wie wir damit verfahren.«
»Das denke ich auch«, stimmte Cadfael zu. »Wie seid Ihr denn bisher verfahren, seit das Mädchen mitten in der Nacht zu seiner Mutter kam? Das Haus von Vivers ist jetzt sicher den zweiten Tag auf den Beinen und sucht alle Straßen nach ihr ab.«
»Nein«, erwiderte die Äbtissin, »denn gestern schickte ich einen Boten zu ihrem Bruder und ließ ihm ausrichten, daß das Mädchen wohlbehalten hier eingetroffen ist und darum bittet, eine Weile in Frieden gelassen zu werden, damit es beten und nachdenken kann. Ich glaube, angesichts der Umstände wird er ihren Wunsch respektieren.«
»Umstände, die sie Euch sicherlich ohne Vorbehalte geschildert hat«, sagte Cadfael. »Soweit sie selbst im Bilde ist.«
»So ist es.«
»Dann wißt Ihr auch vom Tod der alten Frau und von der Heirat, die für Helisende arrangiert wurde. Und Ihr wißt auch um den Grund für die Heirat?«
»Ich weiß, daß sie mit dem jungen Mann, den sie lieber bekommen hätte, eng verwandt ist. Ja, sie hat mir davon erzählt. Mehr, vermute ich, als sie ihrem Beichtvater
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