Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
nicht mehr. Die Worte verlieren ihre Grenzen, werden zum mehrstimmigen Murmeln. Hilfe oder Stopp will sie schreien, doch bevor es dazu kommt, sieht sie ihn.
Genau wie Martha selbst steht auch er vollkommen still. Er sieht sie an, sie blickt zurück, und für einen kurzen Augenblick rastet sie in der Welt ein. Kaum, dass Martha Halt gefunden hat, nimmt die Zeit wieder Anlauf, um ihr ein weiteres Mal davonzurennen. Ein großer Druck breitet sich an dem körperlosen Ort aus, den sie jetzt bewohnt. Erst als der Mann langsam verblasst, versteht sie, dass sie keine Botschaft hat übermitteln, sondern eine hat hören sollen.
Als Martha zu sich kommt, dunkelt es bereits hinter den Fenstern. Die Klientinnen sind längst gekommen und gegangen, haben an die Tür geklopft und ratlos die Köpfe geschüttelt. Martha streicht sich eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn. Ihre Haut ist nass, genau wie ihr Kleid. Der tropfende Stoff hängt schwer an ihrem Körper. Ihr Rücken, ihre Schultern, ihr Kopf schmerzen, und als sie in den Spiegel schaut, entdeckt sie einen roten Fleck unter dem Haaransatz, dort, wo sie mit der Stirn flach auf der Tischplatte gelegen haben muss. Sie rückt so nahe an den Spiegel, dass ihre Nasenspitze beinahe das Glas berührt, betrachtet sich lange und genau, hebt ein Lid an, bleckt die Zähne. Sie sucht nach etwas, einer Auffälligkeit, einer Veränderung. Als sie nicht fündig wird, steht sie auf, läuft zu ihrem Schrank und zieht ihren Koffer aus der hintersten Ecke. Sie hat keine Zeit mehr zu verlieren. Es gilt, einen Zirkus zu finden, der zwei Brüdern gehört, und ihre Namen lauten Merwin und Corwin. Es gilt, einen Jungen ohne Namen, einen Gespensterjungen, aufzuspüren, der darauf wartet, von ihr gefunden zu werden.
*
Martha macht sich über Merwins und Corwins Zirkus kundig. Vor gut vierzig Jahren wurde er von den geschäftstüchtigen Brüdern gegründet. Zirkusse gibt es viele, doch dieser funktioniert und floriert dank eines besonderen Konzepts. Bereits in jungen Jahren kam den Brüdern die atemberaubende Vision einer atemberaubenden Fusion aus klassischem Zirkus, Jahrmarkt und der Demonstration übernatürlicher Phänomene und außergewöhnlicher Individuen – auf dem weitläufigen Gelände findet man Akrobaten und Dompteure, aber auch den geschuppten Jungen, den grünen Mann und die Frau, die durch Glas gehen kann.
Die Brüder mit ihrem Gespür für Moden und Strömungen sind immer auf der Suche nach Attraktionen, die sie von ihren traditionelleren Konkurrenten unterscheiden. Seit Jahren schon halten sie Ausschau nach einem Medium, sind aber bisher immer nur an Hochstaplerinnen geraten. Über die Frau, die vor ihm steht, hat Corwin einiges gehört. Sie sei störrisch, sei in sich gekehrt, mitunter schwierig, niemand aber hat ihr bisher den Vorwurf gemacht, eine Betrügerin zu sein. Er mustert sie genau, wiegt den Kopf und behauptet, erst mit seinem Bruder sprechen zu müssen. Aber Martha kann ihm die Unruhe ansehen und dass er einen Glücksgriff in ihr wittert.
»Ich will so bald wie möglich anfangen«, sagt Martha. »Am besten nächste Woche schon.«
Corwin horcht auf. Die Eile macht ihn stutzig, und er wittert mögliche Streitigkeiten, Anschuldigungen und Gerüchte. Einen Moment überlegt er, die Frau zu prüfen, einen Beweis zu verlangen, eine Vorführung ihres Könnens. Weil er sich aber selbst ein wenig auf dem Gebiet der medialen Verständigung auskennt und um die kapriziöse Natur der Schwingungen und Energien weiß, willigt er ein.
Wenig später sitzt Martha im Publikum und fühlt sich unwohl. Seitdem sie an jenem Abend vor dem Spiegel aus der Zeit fiel, leidet sie noch immer unter den Nachwirkungen. Sie traut der Ruhe nicht, den langsam tropfenden Minuten, so wenig wie eine gerade Gesundete der lauen Leere traut, die auf Schmerzen folgt. Im Zirkuszelt sitzend, braucht sie alle Kraft, um sich auf der Bank zu halten. Sie beißt die Zähne zusammen und versucht, dem Geschehen auf der Bühne zu folgen. Irgendwer reitet, irgendwer brüllt, irgendwer verschwindet, irgendwer taucht auf. Alle klatschen. Martha auch. Aber sie ist nicht Teil des Publikums. Den anderen Zuschauern entgeht nicht, dass mit der schwarz gekleideten Frau etwas nicht stimmt: Sie lacht zu selten und blinzelt zu oft.
Ghostboy lässt weiter auf sich warten, und Martha faltet die zittrigen Hände. Eine weitere halbe Stunde vergeht, dann endlich betritt Corwin die Bühne und schreit ins Publikum. Nun, behauptet er,
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