Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
scheint, angemessen über dich zu sprechen. Man müsste sagen dürfen, was sich heutzutage nicht mehr sagen lässt, ohne sich lächerlich zu machen. Du gehörst in eine andere Zeit, eine, in der man von deinem reinen Herzen sprechen könnte, ohne für verrückt gehalten zu werden.
Aber auch das trifft es nicht ganz, ist nur eine Antwort von unendlich vielen, und sie alle sind wahr. Wieso bin ich mir so sicher?
Vielleicht wegen der Spinnen, vielleicht, weil du so sanft bist und so ruhig, vielleicht wegen den Onkeln und wegen deiner Furcht vor Fischen. Vielleicht wegen deiner Art, so genau zu sprechen, als würdest du die Worte erst behutsam kneten, bevor du sie in die Welt gibst, und wie die Kanten deiner Sätze weicher und ihre Grenzen ungefähr sind, du meist mit einer Frage, einer Absicherung und Vergewisserung endest. Vielleicht wegen der Sorgen, der Ängste, der Zweifel, vielleicht also wegen der Spinnen, der Fische, dem Meer.
Die Geschichte vom Warten
Unser erster Kuss liegt ungefähr drei Wochen zurück, als ich für einige Tage verreise. Professor Dunker hat mich eingeladen, sie auf eine Tagung zum Thema »Pseudo-scientific Discourses in the 19th Century« zu begleiten. Zu diesem Zeitpunkt bin ich unsicher, in welchem Verhältnis wir zueinander stehen, und zu scheu, dich danach zu fragen. Meine einzige andere Liebesbeziehung liegt Jahre zurück und ist ein Unfall gewesen. Damals war ich siebzehn; ich hatte keinen Freund und auch noch nie einen gehabt. Meine Schwester und ihre Freundinnen tuschelten gern über mich, und in der hellhörigen Wohnung meiner Mutter musste ich nur ein Ohr an die Wand legen, um jedes Wort verstehen zu können. »Das ist doch psychologisch!«, urteilte eine von Ninas Freundinnen über mich. Das geflüsterte Gespräch sowie die undurchsichtige Kernaussage – meinte sie pathologisch? Meinte sie, dass ich ein Fall für den Psychologen sei? – verfolgte mich durch den Herbst und bis in den Winter. Aus Gründen, die sich mir bis zum heutigen Tag nicht eröffnet haben, beschloss Hannes Bruckner – ein älterer Junge, dem Nina mit wässrigen Hungeraugen auf dem Schulhof nachstarrte – mein Herz zu erobern. Es gelang ihm nicht, aber wir kamen trotzdem zusammen, und es war ein fairer Handel: Hannes Bruckner, der oft in Simpsons-Zitaten sprach und mir Gedichte schrieb, die sich reimten, hatte genug Zeit, um herauszufinden, dass er mich eigentlich nicht liebte, und ich sah mich von dem Stigma befreit, möglicherweise psychologisch zu sein.
Die Hannes-Bruckner-Affäre hat mich nur bedingt auf künftige Lieben vorbereitet. Ich bin nicht einmal sicher, ob wir uns zur Begrüßung küssen oder umarmen, und achte deswegen immer darauf, etwas Albernes zu tun wie zu knicksen oder dir förmlich die Hand zu reichen.
Obwohl ich mir vornehme, dich vorerst zu verschweigen, dich zu meinem Geheimnis zu machen, kommt es, wie es kommen muss. Schon wenige Tage nach unserem ersten Kuss erzähle ich meiner Mutter am Telefon von dir. Ich werde dich ganz beiläufig erwähnen, beschließe ich, aber kaum, dass ich anfange zu sprechen, werde ich vor Aufregung kurzatmig; als ich endlich deinen Namen fallen lasse, klinge ich beinahe asthmatisch.
»Gerade in der Anfangszeit ist es wichtig, sich in nichts hineinzusteigern«, sagt meine Mutter. »Fahr vielleicht ein paar Tage weg, dann kannst du dir in Ruhe über alles klar werden.«
»Marie«, mahnt sie zum Abschluss. »Du weißt ja, die Wut und die Ungeduld …!«
Die Tagung findet in Heidelberg statt, einer Stadt, in der ich mich einigermaßen auskenne, weil meine Großtante dort wohnt.
»Kann ich ein paar Tage länger bei dir bleiben?«, frage ich sie am Telefon, denn ausnahmsweise will ich dem Rat meiner Mutter folgen und »einen kühlen Kopf bewahren«.
Noch als ich mich mit den Worten von dir verabschiede, dass wir uns dann wohl »irgendwann die Tage sehen«, komme ich mir abgeklärt und weise vor, doch als der ICE den Hauptbahnhof verlässt, erkenne ich, dass ich Weisheit mit Wahnsinn verwechselt habe. Ich muss mir über nichts klar werden, ich weiß doch schon alles: Ich will dich; dich sehen, dich sprechen, dich hören, dich anrufen, ich will wissen, was du tust, und wissen, was du denkst und ob du an mich denkst, und ich denke ohnehin immerzu an dich. Im Zug und auf der Tagung denke ich an dich. Als über Freud und Lombroso gesprochen wird, denke ich an dich. Als von moralischer Hygiene die Rede ist und von nervöser Energie. Von Letzterem habe ich
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