Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
kannst ihn lesen, wenn du angekommen bist.«
Er lässt den Brief in seiner Hosentasche verschwinden. Ein letztes Mal nimmt Martha seine Hand und nickt bestimmt, als hätte sie keine Zweifel. Aber Ghostboy kann ihr die Zweifel ansehen. In den Augen- und Mundwinkeln, im Schwarz der Pupillen, im Zittern der Nasenflügel. Und weil Zweifel wachsen, weil sie größer und schwerer werden, und weil ihn die Angst bald vollständig lähmen wird, klettert er die Leiter hinauf, schwingt erst ein Bein, dann das andere über den Rand des Tanks.
Bevor er ganz untertaucht, will er sich zu Martha umdrehen und ihr etwas sagen, etwas Wichtiges, etwas, das er sich aufgehoben hat für diesen Augenblick. Nur kann er sich nicht mehr erinnern, was es gewesen ist. Jedes Wort scheint ihm zu wenig, ganz und gar unzureichend und unzutreffend für das, was er ihr zu sagen hat.
Und so stößt er sich ab, reißt die Augen auf, ballt die Hände zu Fäusten und lässt den Atem los. Er sieht Martha durch die Scheibe und hinter ihr Lichter, immer mehr von ihnen; bald erleuchten sie den gesamten Raum, und als Ghostboy das Bewusstsein verliert, da wird es ihm nicht schwarz vor Augen, im Gegenteil, es bleibt gleißend hell.
Martha tritt so nah wie möglich an die Scheibe. Sie lehnt die Stirn gegen das Glas, starrt in das Wasser und sieht nicht Ghostboy und sieht nicht, wie sein Körper ihn freigibt. Einen Moment noch trennen sie nur wenige Zentimeter Glas, dann lösen sich Ghostboys Hände von der Scheibe, und er treibt davon in die wässrige Dunkelheit des Tanks, einem anderen Ort entgegen.
III
ÜBER EIN MEER, ÜBER DEN WOL KEN, IN DER FABRIK
Manche Geschichten kann man bloß im Dunklen hören.
Jan und Marie
Ich wünschte, du wärest kleiner. Nicht größer als ein Daumennagel.
Ich wünschte, du wärest leichter. Ganz aus Aluminium gefertigt.
Ich wünschte, du wärest so klein und leicht, dass ich dich zusammenfalten und bei mir tragen könnte. Ich wüsste sicher, dass du gut verwahrt bist und geschützt vor der Welt. Den Schlag deines stecknadelgroßen Herzens, ich hätte ihn immer im Ohr. Wir wären nie getrennt.
Ich möchte auch so sagen: Wir sind unzertrennlich.
Aber ich weiß ja, dass es nicht stimmt.
Man kann alles trennen, teilen und spalten, sogar ein Atom.
Ich möchte von uns erzählen.
Wenn ich mich an die Wochen nach unserem ersten Kuss erinnere, denke ich immer zuerst an eine englische Redensart, die sich sinngemäß so übersetzen lässt: Es war die beste, es war die schrecklichste Zeit.
Und in der besten, der schrecklichsten Zeit wird mein Magen zum sperrigen Kästchen voll rostiger Nägel, hinter meinen Rippen ziept und rattert es. Die Tage beginnen früh um sieben, wenn ich aufschrecke, als hätte mich jemand an der Schulter gerüttelt. Ich trage wenig anderes als deinen Namen in meinem Kopf, und es ist mir unmöglich, an Schlüssel, an unbeantwortete E-Mails, an unbezahlte Rechnungen zu denken. Wie jemand, der auf der Straße einen Lottoschein gefunden und den Hauptgewinn gezogen hat, kann ich mich nur verhalten freuen. Ich weiß, dass die Millionen mir nicht zustehen, dass sie eigentlich jemand anderem gehören und ich sie mir in einem Moment irren Glücks erschlichen habe. Ich weiß, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis ich auffliege und der rechtmäßige Gewinner seinen Gewinn auch einfordern wird.
Wenn ich dich in der gewöhnlichen, kaugummiverklebten, graugepflasterten Welt sehe, im Supermarkt oder an einer Bushaltestelle, erschrecke ich. Du gehörst ja so wenig an diese Orte wie eine Kostbarkeit, ein Kunstwerk; du gehörst in eine Vitrine mit Sicherheitsanlage und dem Warnschild, dass du unter keinen Umständen anzufassen seist.
Ich weiß, dass mit meiner Wahrnehmung etwas nicht stimmen kann, denn sähen dich andere Menschen so wie ich, dann blieben sie bei deinem Anblick auf der Straße stehen. Jeder würde über dich sprechen, würde nicht widerstehen können, über den weichen Ärmel deines Pullovers zu streichen. Unsere Nachbarn, meine Kollegen an der Uni, jeder, der uns als Paar kennenlernt, würde mich auf dich ansprechen, sich ungläubig erkundigen, wo ich jemanden wie dich gefunden habe.
Einmal, kurz nachdem ich meiner Mutter erzählt habe, dass wir zusammenziehen werden, fragt sie, was mich so sicher sein lässt.
»Können wir über was anderes reden?«, frage ich zurück. Zum einen, weil ich anders als Nina nicht mit meiner Mutter über die Liebe sprechen will. Zum anderen, weil es mir unmöglich
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