Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
vorausgesagt, etwas werde geschehen. Niemand möchte alleine in seinem Wagen sein, und die Artisten entfachen ein Feuer auf dem Platz, sammeln sich in kleinen Gruppen und reiben sich fröstelnd die Hände.
Ghostboy und Martha stehen vor dem Riesenrad. Ghostboy erinnert sich an all die Abende, die sie gemeinsam hier verbracht, den Kindern, den Eltern, den Freunden und Paaren zugeschaut haben, wie sie sich im Kreis drehten, aufstiegen und abstiegen, ausstiegen oder sitzen blieben. Obwohl an diesem Abend keine Besucher gekommen sind, um darin zu fahren, ist das Rad angeschaltet worden. Ghostboy verfolgt das Rad mit den Augen, und es scheint ihm, als kurbele es die Zeit an, setze mit jeder Umdrehung eine weitere Minute in Gang. Er möchte es anhalten, den Moment stillstellen und sich selbst und Martha darin.
Martha legt den Kopf an seine Schulter. Die Menschen um sie herum bewegen sich langsamer und leiser, das Rad dreht sich nur noch kaum merklich, dann gar nicht mehr.
Und Martha –
– hört ein dumpfes Schlagen, ein verhaltenes Pochen, holpernd aussetzend und einsetzend, bis es seinen Takt findet. Ghostboys Herz schlägt, sie kann es spüren.
Und Ghostboy –
– fühlt sich ganz von Martha umgeben; sie ist nicht länger nur in dem Körper, der sie hält, sondern in der Luft um ihn herum; sie beide sind Teil eines Feldes. Und es ist gleich, ob eine gläserne Wand, ein weißer Wald, ein weites Meer zwischen ihnen liegt, die unzähligen Teilchen und Splitter, aus denen sie gemacht sind, werden zueinanderstreben, bis sie sich wieder so nah sind wie hier und jetzt in diesem Augenblick.
Ghostboy sieht die Lichter als Erster. An die fünfzig Fackeln bewegen sich auf den Zirkus zu; die Menschen hält die Nacht noch verborgen.
Noch immer sitzen Ghostboy und Martha auf dem Treppchen vor Ghostboys Wagen. Martha hat den Kopf an Ghostboys Schulter gelehnt, die Augen geschlossen.
»Sie kommen?«, fragt sie, ohne die Augen zu öffnen.
Ghostboy späht in die Dunkelheit. »Wollen sie den Zirkus anzünden?«, fragt er.
Statt zu antworten, zieht Martha die Arme noch enger um ihn. Dann lässt sie ihn los.
»Lass uns ins Zelt gehen«, sagt sie.
Ghostboy zögert und blickt zu den Artisten, die sich in der Mitte des Platzes versammelt haben, um den Männern aus Pern gegenüberzutreten.
»Sollen wir uns nicht zu ihnen stellen?«, fragt Ghostboy.
Martha schüttelt den Kopf. Ghostboy wirft noch einen letzten Blick auf den geschuppten Jungen, dann folgt er ihr ins Zelt.
Im Zelt ist es dunkel, die Bühne und die Bänke sind verlassen. Martha führt Ghostboy zielstrebig am Rand der Bühne entlang und zum Tank. Das Wasser in seinem Inneren schwappt schwarz gegen das Glas. Eine Weile stehen sie und schauen in den Tank, bis sie Lärm von draußen hören, Rufe, die Ghostboy herumfahren und zum Zelteingang blicken lassen.
»Du kannst nicht rausgehen«, sagt Martha.
»Aber sie werden reinkommen«, sagt er leise.
»Das werden sie«, antwortet Martha. »Darum musst du mitkommen.«
»Aber wohin? Wir kommen doch nicht weit, selbst wenn wir es schaffen, den Platz zu verlassen, ohne dass sie es merken. Wir könnten doch nur nach Pern. Und dort werden sie uns auch finden.«
Statt ihm zu antworten, blickt Martha von dem Tank zu Ghostboy. Und wieder zurück.
Fröstelnd lehnt sich Ghostboy gegen die Glasscheibe. Ein Raum zum Verschwinden, denkt er und fühlt sein Herz, unangenehm lebendig zuckt und zappelt es. Er fürchtet sich, fürchtet sich vor dem Tod, fürchtet um das Herz, das gerade erst zu schlagen begonnen hat. Es wird nicht mehr lange dauern, bis die Männer aus Pern das Zelt erreicht haben. Ghostboy kann sie hören. Martha neben ihm rührt sich nicht, sagt nichts, steht still und wartet. Genau wie Ghostboy. Auch er wartet darauf, dass sich etwas in ihm in Bewegung setzt, etwas aufsteht und losläuft und ihn mit sich nimmt. Und gerade, als er fürchtet, dass nichts geschehen wird, sie vor dem Tank stehen bleiben werden, so lange, bis man sie holen kommt, da löst sich sein rechter Fuß vom Boden, da legt sich seine linke Hand auf eine der oberen Leitersprossen. Noch bevor er beginnen kann, sie hinaufzuklettern, hält Martha ihn zurück.
»Warte«, sagt sie und zieht aus der Tasche ihres Kleides etwas Weißes hervor, das er zunächst für ein Tuch hält, dann aber als ein engbeschriebenes Blatt Papier erkennt. Liebe Bewohner von liest er, bevor Martha den Brief zusammenfaltet.
»Noch nicht«, sagt sie. »Steck ihn ein. Du
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