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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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schließt sie sich in ihrem Wagen ein; wenn sie ihn verlässt, dann nur, um mit schnellen Schritten über den Platz vor dem Riesenrad zu eilen. Das ungekämmte Haar in einen wirren Knoten geschlungen, den Oberkörper vorgebeugt, huscht sie zwischen Wagen und Buden hindurch. Sie runzelt die Stirn, bewegt lautlos die Lippen und fährt mit den Händen durch die Luft, als führe sie eine Unterhaltung mit sich selbst, die nicht nur endlos, sondern auch wenig zufriedenstellend ist.
    »Wir werden eine Möglichkeit finden«, hat Ghostboy ihr versprochen, als sie in jener Nacht vom Bahnhof zurückgekehrt sind. Aber sie haben keine Möglichkeit gefunden, nimmt man es genau, hat Ghostboy auch nicht nach einer gesucht. Er fürchtet sich vor Pern mit seinen abweisenden Menschen, seinen verlassenen Straßen und grauen Häusern. Die Freude am Schnee ist ihm schon lange vergangen, und er sehnt sich nach anderen Farben als dem ewigen Weiß, nach Blättern und Grashalmen. Martha aber muss er ihn verschweigen, jenen Moment kurzen Aufatmens, als er verstand, dass kein Zug sie fortbringen würde, nicht von Pern, nicht vom Zirkus, nicht von seinem Wagen und nicht von Merwin und Corwin.
    *
    Martha wacht am späten Vormittag auf. Ihr Kiefer schmerzt und ihr Nacken; als sie sich aufsetzt, kippt der Raum zu allen Seiten von ihr fort. Ihre Gedanken wandern über das Gelände, die eisbedeckten Felder und Pern hinweg. Sollte sie Ghostboy ein weiteres Mal an die Hand nehmen, ihn bis zu dem verlassenen Bahnhof ziehen, immer weiter durch die Wälder und die verlassenen Straßen entlang, bis in den nächsten Ort? Sie rutscht bis an die Bettkante. Aber der nächste Ort ist zu weit entfernt, sie würden auf halber Strecke umkehren müssen, oder erfrieren, bevor sie ihn erreichen. Sie lässt sich zurückfallen und wartet auf den Schlaf, denn nur er kann sie jetzt noch fortbringen aus Pern.
    Ghostboy klopft an Marthas Wagentür. Niemand antwortet, auch nicht auf sein zweites und sein drittes Klopfen. Vorsichtig drückt er die Klinke herunter und späht in das dunkle Wageninnere. Er meint, Martha schemenhaft zu erkennen; mit angezogenen Beinen sitzt sie auf der Matratze. Als er das Licht anschaltet, schlägt sie die Hände vors Gesicht.
    »Soll ich es wieder ausmachen?«, fragt er.
    Langsam schüttelt sie den Kopf. Sie sieht aus, als hätte sie seit Tagen nicht gegessen, nicht getrunken, als hätte sie seit Wochen nicht geschlafen.
    »Sie werden heute kommen«, sagt sie, ohne ihn anzusehen.
    Ghostboy setzt sich neben sie. »Wer wird kommen?«
    »Die Männer. Der Fabrikant.«
    »Aber sie kommen doch ohnehin jeden Abend.«
    »Aber heute Nacht, da kommen sie wegen dir.«
    »Und was passiert dann?«
    Sie zuckt die Achseln, schaut nicht Ghostboy an, sondern in die Leere zwischen Tisch und Kleiderschrank.
    Schmutzige Teetassen und ungewaschene Kleider stapeln sich auf dem Boden; die Luft ist stickig.
    »Komm mit mir nach draußen«, sagt Ghostboy.
    Zunächst scheint sie sich sträuben zu wollen, lässt es aber geschehen, als er ihr Handschuhe und Stiefel überzieht.
    Draußen geht die Sonne unter. Ghostboy gibt nicht allzu viel auf Sonnenuntergänge, ahnt aber, dass es sich um einen von der Sorte handelt, die man malt oder fotografiert. Zum ersten Mal seit Tagen zeigt der Himmel all seine Farben, Orange und Rot und verhaltenes Violett, die leuchtend warmen und die kühlen, von der Nacht kündenden. Während Ghostboy Marthas Hand nimmt und festhält, spürt er, wie auch er selbst von fremden Farben überzogen wird.
    *
    Im Zirkus ist man bereits daran gewöhnt, dass sich nicht besonders viele Besucher blicken lassen, doch an diesem Abend kommt kein einziger.
    Corwin stößt zu Martha und Ghostboy.
    »Merkwürdig«, sagt er und deutet mit einem Nicken auf den verlassenen Platz.
    »Sie wissen, was heute Abend passiert«, sagt Martha. »Darum kommen sie nicht.«
    »Was passiert heute?«, fragt Corwin.
    Martha kaut stumm auf ihrer Unterlippe.
    Ghostboy stellt sich neben Corwin; gemeinsam blicken sie hinaus. Hinter den Feldern liegt Perns Stadtrand. »Martha denkt, dass die Männer Ärger machen werden.«
    »Sollen sie kommen«, sagt Corwin. »Mit sechs Männern werden wir es wohl aufnehmen können.«
    Martha macht ein unbestimmtes Geräusch. »Es werden nicht bloß sechs sein«, sagt sie.
    »Warten wir es ab«, sagt Corwin.
    Und sie warten.
    Die Nacht bricht herein und bringt keinen Schlaf.
    Im Zirkus munkelt und flüstert und tuschelt und wispert man: Martha habe

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