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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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nun eine sehr genaue Vorstellung: In meinem Körper schwirrt und flirrt es, meine Lungenflügel flattern aufgeregt, mein Magen schlägt Salti. Während die nervöse Energie meinen Körper von innen her zersetzt, versuche ich nach außen hin gelassen zu wirken. Doch mein Blick wandert immer wieder zum Mobiltelefon. Und wenn ich es vor mir selbst verstecke, dann schleichen meine Hände, meine Finger wie ungehorsame Tierchen in die Tasche und suchen es sich herbei.
    Aber du schreibst mir nur selten, schreibst nie aus eigenem Antrieb, sondern immer nur, wenn ich dich aus einem fadenscheinigen Grund kontaktiert habe, mit einem kleinen Witz, einem erstaunlichen Fakt (»Im vorletzten Jahrhundert hätte man noch versucht, dir die kriminellen Energien am Schädel abzulesen«). In deine Nachrichten lese ich einen kühleren Ton hinein. Alles ist mir Warnsignal.
    Halbwissen ist besser als gar kein Wissen, entscheide ich entgegen meiner bisherigen Überzeugung und verbringe die Pausen zwischen den Vorträgen damit, durch die Supermärkte zu streichen und verstohlen in Zeitschriften zu blättern. Ich überlege sogar, Nina anzurufen, denn sie dürfte bestens informiert sein, was die entscheidenden Richtlinien und Zahlen angeht: Wer wen anrufen darf und wie oft, wie viele Textnachrichten ich an einem Abend schicken darf und nach wie vielen Stunden (Tagen?) ich mich sorgen muss, weil du nicht antwortest. Aber ich sorge mich ja ohnehin. Sorge mich, während über Schädelvermessung, Hypnose, gezogene Zähne, Lobotomie, Elektroschocks und kalte Bäder gesprochen wird. Ich esse sorgenvoll den Kartoffelauflauf meiner Großtante und trinke morgens sorgenvoll meinen Kaffee. Abends lege ich mich rotweinschwer ins Bett und sorge mich in den Schlaf.
    Als die Tagung vorbei ist, führt mich die Zeit hinters Licht. Die Tage machen sich breit in der viel zu warmen Wohnung meiner Großtante und nehmen unangemessen viel Raum, nein, Zeit ein.
    Meine Großtante spricht oft und lange über meine Schwester, ihr Patenkind, und ich höre ihr nicht zu. Ich interessiere mich nicht für Nina, ich interessiere mich eigentlich für überhaupt nichts und erschrecke über mich selbst. Ich kann nicht lesen, nicht zuhören, alles langweilt mich, Kunst und Politik und meine eigene Familie. Tagsüber bin ich müde, abends wie aufgezogen. Einzig Bewegung verschafft mir Ruhe. Wie immer, wenn ich mir die Ungeduld austreiben muss, laufe ich sie mir aus den Gliedern. Außerdem gehe ich schwimmen, in einem kleinen See in der Nähe der Wohnung. Dort bleibe ich oft bis zum frühen Abend. Sobald ich untertauche, umfängt mich eine Stille, die ich, obwohl ich kein religiöser Mensch bin, nicht anders als »heilig« bezeichnen könnte. Wahrscheinlich weil sie mich an die Stille in Kirchen erinnert, die so schwer und dicht ist, dass man sich sicher in sie gebettet fühlt und nichts anderes mehr denken kann, als dass man nichts denken kann. Nachdem ich lange geschwommen und getaucht bin, kommt immer der Moment, in dem ich zurück an Land muss. Kaum, dass ich das Ufer erreiche, erfasst die Schwerkraft meinen Körper, meine Gedanken: Ich bin immer noch hier, und du bist immer noch irgendwo.
    Es gibt nur eine Möglichkeit, der Zeit Herr zu werden. Man muss sie durch genaue Katalogisierung unterwerfen. Ich greife zu bewährten Maßnahmen: Im Gästezimmer meiner Großtante steht neben dem Bett ein hölzerner Hocker, und in die Unterseite seiner Sitzfläche ritze ich mit meiner Nagelschere eine Kerbe für jede Stunde, die vergeht.
    Doch trotz der Kerben, trotz der heiligen Stille, verliere ich mich in der Zeit und glaube schon bald nicht mehr, dass es einen Zustand jenseits des Wartens gibt. Es ergeht mir wie schwer Erkrankten, die seit Stunden, vielleicht auch Tagen mit Magenkrämpfen oder Fieber im Bett gelegen haben und auf nichts mehr vertrauen, nicht auf Medikamente, nicht auf die Worte des Arztes und nicht auf das eigene Wissen. Es gibt nur noch eine Wahrheit und die ist unmittelbar: Die Gesundung wird entgegen aller Prognosen niemals eintreten, für den Rest aller Zeiten wird man krank sein.
    Aber niemand wartet für immer.
    Ich ritze die 120. Kerbe in den Stuhl und fahre nach Hause und sehe dich wieder; falle dir unverhältnismäßig schwer in die Arme – nie steht meine Liebe im rechten Verhältnis, nie bleibt sie im richtigen Maß. Und als ich im Dunklen neben dir liege und dich atmen höre, da weiß ich, dass ich immer noch nicht aufgehört habe zu warten, und es macht

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