Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
hindurch und geht zum nächsten Patienten.
Jemand berührt ihn an der Schulter. Vor ihm schwebt ein Plastikbecher, gefüllt mit Tabletten. Der Becher wird von einer Hand gehalten, die Hand befindet sich an einem Arm und der Arm an einer Frau. Sie trägt die dunkle Uniform der Schwestern. Jakob ist sicher, sie noch nie gesehen zu haben. Als er zu ihr aufblickt, ist es, als hätte jemand an einem unsichtbaren Regler gedreht, die Frau stellt sich plötzlich scharf, ihre Umrisse und Farben werden eindeutig. Er kann ihre dunklen Wimpern ausmachen, die Narbe über ihrer Augenbraue, sogar die feine Silberkette um ihren Hals.
Er richtet sich auf, um den Becher entgegenzunehmen. Doch noch bevor er die Hand ausstrecken kann, wird ihm schwindelig, und er sackt vornüber. Rasch packt die Schwester ihn bei den Schultern und stützt ihn, während er sich zurücksinken lässt. Auch im Liegen lässt der Schwindel nicht nach. Er wünscht sich, die Schwester würde die Hände von seinen Schultern nehmen, sich aufrichten und einen Schritt zurücktreten. Als sie ihn aber tatsächlich loslässt, stellt sich statt der erwarteten Erleichterung ein Gefühl unbestimmter Enttäuschung ein.
»Geht es?«, fragt sie, die Stimme so viel tiefer als erwartet, dass er aufblickt, um sich zu vergewissern, dass tatsächlich sie gesprochen hat.
Langsam nickt er.
»Bleiben Sie liegen«, sagt sie. »Ich bringe Ihnen ein Glas Wasser.«
Sie geht sorgfältig mit den Worten um, fasst die Silben behutsam und wie zerbrechliche Gegenstände. Ihre Augen sind von einem ungewöhnlichen Blau. Indigo, nein, Azur, nein, Aquamarin, nein, nichts davon. Es ist keine Farbe, die er kennt, die er benennen könnte.
Als sie einen Schritt zurücktritt, hebt er die Hand. Ein Gefühl großer Eile überkommt ihn: Wenn sie jetzt geht, weiß er ihren Namen nicht, könnte nicht nach ihr fragen. Er öffnet den Mund, um sich am ersten Wort der schier nicht zu bewältigenden Frage abzumühen: Wie –
»Milena«, sagt sie und kommt ihm zuvor. »Ich heiße Milena.«
Nachdem sie ihm ein Glas Wasser gebracht hat, entfernt sie sich. Er beobachtet noch eine Weile, wie sie zwischen den Liegen umhergeht und mit den anderen Patienten spricht. Verrät sie auch ihnen ihren Namen, oder ist er ein Geheimnis, das sie bloß mit Jakob teilt? Solange sie sich innerhalb eines bestimmten Radius bewegt, sieht er sie klar und deutlich. Dann verschwimmt sie.
Den nächsten Tag über hält er vergeblich nach Milena Ausschau. Gegen Abend wird er von einer Schwester auf eines der unteren Decks gebracht. Er überlegt, nach Milena zu fragen, doch etwas hält ihn zurück, vielleicht das Gefühl, bereits einen Verstoß begangen zu haben, nur weil er ihren Namen kennt.
Man setzt ihn in einen kleinen Raum, wo er wartet, ein paar Minuten oder eine ganze Stunde, auf sein Zeitgefühl kann er sich schon lange nicht mehr verlassen. Irgendwann muss er eingenickt sein, denn als er den Kopf hebt, sitzt ihm eine Frau gegenüber. Eine Ärztin, vermutet er aufgrund ihres weißen Kittels. Sie möchte mit ihm über den weiteren Verlauf der Lichttherapie sprechen und reicht ihm ein Papier, auf dem Buchstaben wie kleine schwarze Tiere über das Weiß huschen. Er hebt die Schultern, lässt sie fallen, schiebt das Blatt über die Tischplatte zurück.
Ein sanftes Murmeln setzt ein, und nach einigen Sekunden versteht er, dass es die Ärztin ist, die mit ihm spricht. Sie verstummt; die beiden sehen einander erwartungsvoll an, dann steht die Ärztin auf und geht hinaus. Eine Schwester bringt ihn in ein Nebenzimmer, wo sie sich an seinem Arm zu schaffen macht und er zusieht, wie sich eine Kanüle mit seinem nun vollends farblosen Blut füllt.
Etwa alle zwei Stunden kommt eine Schwester vorbei, stellt ein Tablett vor ihm ab und verlangt, dass er etwas isst. Nur hat er keinen Hunger. Nein danke, sagt er oder versucht es zumindest, meist stottert er bloß ein »N-n-n« vor sich hin. Wenn er versucht das Tablett wegzuschieben, hält die Schwester es fest und erklärt ihm, sicher nicht zum ersten Mal, dass er essen muss.
Er nickt, er versteht ja, hat aber nun einmal keinen Hunger, das Essen fällt ihm in schweren Brocken durch den Körper, bleibt unter seinen Rippen als drückender Klumpen liegen.
Tagsüber schläft er oft und viel, nachts aber liegt er lange wach. In seiner Kabine ist es nie dunkel, auch während der Schlafenszeiten nicht. Obwohl er sich als Kind vor der Dunkelheit gefürchtet hat, ist es hier die Helligkeit,
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