Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
steigenden Anzahl von Betten. Immer wieder kommt es vor, dass Menschen verschwinden, klammheimlich rollt man ihre Betten davon. An der Nachtkrankheit stirbt man leise, ohne ein letztes Aufbäumen, ohne Seufzer, Klagelaute oder Schreie.
Jakob wird in die Labore geschickt, wo man ihn ausleuchtet und anritzt und ihm gelbliches, beinahe farbloses Blut entnimmt. Er befindet sich bereits in einem fortgeschrittenen Stadium der Krankheit, weiß er, ohne dass man es ihm sagen muss.
Während man ihn in einem Krankenwagen durch die Straßen der Nachtstadt fuhr, ging er unter. Seitdem spürt er eine eigenartige Schwere in den Gliedern, so als erfolge jede Bewegung gegen einen Widerstand; auf seinen Ohren liegt ein unangenehmer Druck. Die Worte, die zu ihm vordringen, sind gedämpft und nur schwer zu verstehen. Er ist nicht mehr Teil der Welt der Farben und Laute, fast blind, fast taub, ohne Gleichgewicht, Sprache, Hunger oder Durst findet er sich an einem fremden Ort wieder. Das Leben spielt jetzt über ihm, fern von ihm.
*
Das Los entscheidet sich für Jakob. Er, der nie Glück hat, der nie etwas gewinnt, nie zufällig richtig entscheidet oder ausgewählt wird, gehört zu den wenigen Patienten, die einen sechswöchigen Aufenthalt an Bord der Nereid 23 verbringen sollen.
Gleich bei seiner Aufnahme auf dem Luftschiff stattet man ihn mit Hilfsmitteln aus; einer Brille mit dicken Gläsern, einem Hörgerät. Trotzdem kann er seinen Augen und Ohren nicht trauen. Die Schwestern etwa versteht er nur schlecht, auch wenn sie besonders langsam und laut mit ihm sprechen. Während der Erstuntersuchung hat man ihm versichert, dass eine vollständige Genesung möglich, ja sogar wahrscheinlich sei.
»Sie werden wieder der Alte sein«, hat eine Schwester mit sehr lauter Stimme zu ihm gesagt.
Er hat sie verstanden, sich unter den Worten aber nichts vorstellen können. Der Alte, wer soll das sein? Er hat ihn verloren, als er zu etwas Neuem wurde: einem Kranken, einem Patienten, einem Gespenst. Einem Gespenst, das nun an einem Ort lebt, der gleichzeitig sehr hell und sehr dunkel ist, an dem das grelle, tiefschwarze Licht einem auf den Netzhäuten brennt, die Ecken und Kanten weich werden, einem Ort, der ungefähr ist. Das heißt: Alles könnte in etwa so, vielleicht aber auch ein wenig anders sein.
Die ersten Tage fließen ineinander, sie sind ohne Grenzen und Unterschiede. Er schläft viel; nach dem Aufwachen ist er stets orientierungslos, könnte nicht sagen, wer er ist, wo er ist. Den Großteil des Tages verbringt er im Glaskuppelraum, auf dem höchstgelegenen Deck des Schiffs. Hin und wieder richtet er sich blinzelnd auf und schaut sich um. Obwohl es nirgendwo ein Becken zu sehen gibt, erinnert ihn der Raum an eine Schwimmhalle. Kreisförmig und wie um ein geheimes Zentrum angeordnet stehen etwa hundert Liegen. Jede einzelne ist besetzt, von Patienten, die genau wie Jakob schlafen oder vor sich hin zu dämmern scheinen; in ihrer weißen Kleidung sehen sie nicht wie Kranke aus, sondern wie Gäste eines Freizeitressorts.
Seitdem das Luftschiff sich oberhalb der Wolkendecke befindet, fallen die Sonnenstrahlen durch die große gläserne Kuppel in den Raum, tauchen die Liegen und sämtliche Patienten in ein warmes Licht.
Wenn er angestrengt lauscht, meint Jakob, das Summen der Motoren viele Decks unter sich zu hören. Wie den meisten Patienten hier wird auch ihm von dem unaufhörlichen Rucken und Zittern schlecht. Nach wenigen Tagen werde sich das legen, hat eine Schwester ihm versichert.
In regelmäßigen Abständen sieht jemand nach ihm – Schwestern oder Pfleger. Sie bringen ihm Tabletten, die er ohne Widerworte und Fragen schluckt. Über den Therapieplan weiß er nichts. Falls man ihn informiert hat, muss er das Gesagte entweder vergessen oder gar nicht erst verstanden haben.
Man spricht wenig mit ihm. Die einzigen Geräusche im Raum sind das monotone Motorensummen und ein gelegentliches, verhaltenes Murmeln unter den Patienten, den Schwestern und Pflegern. Ihm fehlen Worte, laute Stimmen und Rufe, ihm fehlt Musik. Vergebens wartet er darauf, Fragen gestellt zu bekommen, ermutigt oder getadelt zu werden. Manchmal, wenn er mit unsicheren Händen eine Tablette zum Mund führt, lässt er sie absichtlich fallen, weil er hofft, dass die rothaarige Schwester, die ihm die Medizin verabreicht, zu ihm sprechen wird. Doch sie liest die Tabletten stets wortlos auf, schiebt sie ihm mit schnellen, routinierten Bewegungen zwischen den Lippen
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