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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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sich wieder in seinem ersten hellwachen Moment an Bord des Luftschiffs, in einem kleinen, grell erleuchteten Raum, der sich nur unwesentlich von seiner alten Kabine unterscheidet.
    »Milena?«, fragt er.
    Niemand antwortet.
    Eine Weile bleibt er aufrecht sitzen, beide Augen auf die Tür gerichtet. Bald beginnt diese, wieder zu verschwimmen, drücken ihn die unsichtbaren Gewichte tief in die Matratze zurück. Er schließt die Augen, nur für den Moment, und horcht weiter aufmerksam zur Tür. Ich werde nicht einschlafen, denkt er, ich werde warten, bis sie zurückkommt. Doch schon nach kurzer Zeit schluckt ihn der Schlaf.
    Als er die Augen öffnet, sitzt sie neben seinem Bett, als sei sie nie fort gewesen. Hat er ihre Abwesenheit nur geträumt?
    Doch als wüsste sie von seiner Frage, sagt Milena: »Es geht dir langsam besser. Das ist gut. Aber es bedeutet, dass ich nicht immer hier sein kann.«
    Er nickt, auch wenn er ihre Worte im ersten Moment nicht versteht. Was hat seine Krankheit, ihre Besserung oder Verschlechterung mit Milenas Anwesenheit zu tun? Erst dann, mit einiger Verspätung fällt es ihm wieder ein: Er ist ein Patient, sie eine Schwester.
    »Ich komme wieder«, verspricht sie. »Wenn ich kann, wann immer ich die Zeit finde, dann komme ich wieder.«
    Man verlegt ihn in ein anderes Zimmer, eines, das er sich mit fünf weiteren Patienten teilen muss. Sie alle haben genau wie er einen schweren Rückfall erlitten, sie alle erholen sich langsam und gegen alle Wahrscheinlichkeiten.
    Milena hält ihr Versprechen, und es vergeht kein Tag, an dem er sie nicht sieht. »Es sah aus, als würde die Lichttherapie nicht anschlagen«, erklärt sie ihm. »Für manche kommt das Luftschiff zu spät. Ab einem gewissen Stadium kann der Körper das Licht nicht mehr aufnehmen.«
    Jakob liegt in einem der beiden äußeren Betten, neben einer weitläufigen Fensterfront, durch die zu jeder Zeit Sonnenlicht einfällt. Für einige Tage soll er hierbleiben, bevor er zurück in seine Kabine darf.
    Er sehnt sich nun nicht unbedingt nach seiner Kabine, wohl aber nach der alten Abgeschiedenheit. Von den anderen Patienten im Mehrbettzimmer trennen ihn nur weiße, luftige Vorhänge, die sich bei Bedarf schließen lassen. Es fällt ihm schwer, zuzusehen, wie Milena sich um die anderen Patienten kümmert, und wenn sie anschließend an sein Bett tritt, seine Temperatur misst und die Infusion kontrolliert, fühlt er sich befangen, ja peinlich berührt ob seiner eigenen Krankheit. Er macht dann ungenaue oder schlichtweg falsche Angaben, um über den Grad seiner anhaltenden Schwäche hinwegzutäuschen. Nein, ihm sei nicht mehr schwindelig, nein, schlecht sei ihm eigentlich kaum noch.
    Die Krankheit lässt ihn zu einem gewöhnlichen Patienten werden, sie macht alle Unterschiede zu den anderen im Raum nichtig.
    Aber es gibt Unterschiede. Er ist sicher, dass sie ihn anders ansieht, anders mit ihm spricht. Und wenn ihn die Angst überkommt, dass er sich irrt, sich einen bestimmten Ton, Blick oder Ausdruck eingebildet hat, gibt es immer noch eines, an das er sich halten kann: Er ist der Einzige, dem sie vorliest.
    Wann immer sie die Zeit findet, setzt sie sich an sein Bett. Sie liest sehr leise und auch, wenn er sie hin und wieder nicht versteht, ist er dankbar, dass sie nicht lauter spricht; keines ihrer Worte soll bis an die Ohren der anderen Patienten vordringen, jede ihrer Geschichten ihm ganz allein gehören. Manchmal glaubt er, dass sie ihm schon während des langen Fiebers vorgelesen haben muss, dass es bereits in jener Zeit der beruhigende Klang ihrer Stimme war, der ihn durch die endlosen Stunden brachte.
    Immer liest sie aus dem gleichen Buch; er erkennt es an dem grün schimmernden Einband, der an manchen Stellen bereits abgewetzt ist, einige Seiten sind lose oder angerissen. »Das Fremde Meer und andere Geschichten« entziffert er schließlich den Titel.
    Noch immer fällt es ihm schwer, sich zu konzentrieren, und obwohl er versucht, Milena aufmerksam zuzuhören, entgleiten ihm die Geschichten wieder und wieder. Er hat Schwierigkeiten zu folgen und die einzelnen Erzählungen auseinanderzuhalten. Manche glaubt er schon öfter gehört zu haben als andere. Sie alle spielen an der Nordküste des Landes, es muss sich um eine Sammlung regionaler Legenden handeln. Nun, da er sich erholt, das Geschehen bewusster wahrnimmt, fällt ihm auf, wie mühelos Milena die fremd klingenden Namen der Menschen und Orte ausspricht, und er versteht, dass sie

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