Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
die ihm zu schaffen macht, das grelle Weiß, das ihm in den Augen schmerzt. Er würde gern einen Pfleger bitten, das Licht für ihn zu dimmen, bringt aber nach wie vor nur ein Stottern zustande. Also zieht er sich die Bettdecke über den Kopf, versteckt sich unter den Kissen. Er denkt an Milena. Schon lange ist er nicht mehr sicher, ob er sie sich nicht bloß ausgedacht hat.
Unterdessen, während er wenig isst und viel liegt, im Glaskuppelraum oder in seiner Kabine, geschieht etwas mit ihm. Er traut sich nicht, den Schwestern davon zu erzählen. Dann, eines Morgens, ist er plötzlich da, der Schwindel, ist es fort, das Gleichgewicht. Zwischen seinem Bett und dem Schrank stürzt er und fällt der Länge nach hin. Mühsam richtet er sich wieder auf, bevor eine der Schwestern ihn finden kann. Er betrachtet seine weißen Hände, fühlt sich gleichermaßen ratlos und niedergeschlagen; es sollte ihm doch besser gehen, der Erholungsprozess längst eingesetzt haben. Wenn er nur mit Milena sprechen könnte, ihr würde er erzählen, von den milchigen Flecken, die sein Sichtfeld trüben, von den Zeitlöchern, in die er immer wieder stürzt, und wie er sich am Ende der verlorenen Sekunden meist auf dem Boden wiederfindet. Doch Milena bleibt verschwunden.
Mitten in der Nacht wacht er auf. Sein Kopf schmerzt, seine Glieder schmerzen, vor allem schmerzt seine Haut. Er schwitzt unter dem dünnen Laken, der Stoff schabt und ätzt, liegt bleiern auf ihm. Er streift das Laken ab, würde sich auch die Kleidung vom Leib reißen, doch fehlt ihm die Kraft. Nach einigen vergeblichen Versuchen gelingt es ihm, die Hand zu heben, den Arm auszustrecken und den kleinen roten Knopf neben seinem Bett zu drücken.
Jemand kommt. Milena, denkt Jakob, dann erkennt er, dass ein Pfleger neben seinem Bett steht. Während er ihm eine Infusion legt, spricht er beruhigende Worte, die Jakob nicht versteht. Jakob fährt sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und öffnet den Mund, um nach Milena zu fragen; wieder bringt er keinen Ton hervor.
Seine Lider senken sich wie von selbst. Endlich wird es dunkel.
Ein schwerer Vorhang hebt sich; hinter ihm liegen zahllose leere Stunden, Zeitozeane, durch die Jakob im Halbschlaf treibt.
Und dann, am zweiten, am dritten oder hundertsten Tag seiner Krankheit sitzt Milena an seinem Bett. Vergeblich versucht er, sie zu begrüßen; seine Zunge liegt ihm wie ein aufgequollener Schwamm im Mund. Sie schüttelt sacht den Kopf und streicht ihm übers Haar.
Wieder verliert er sich. Dieses Mal in einem Nebel, in dem es nur noch Schmerzen und Fragmente gibt, halbe Gedanken und undeutliche Bilder; die Krankheit ist ein ewiges Driften, ein Warten und Aushalten. Unzählige Male kommt er zu sich, unzählige Male sieht er Milena, und unzählige Male sagt er ihren Namen.
Das eine zumindest ist ihm sicher: Wann immer er die Augen aufschlägt, sitzt sie neben ihm.
Zu dem Schwitzen und dem Frieren, den Schmerzen und der Müdigkeit kommt irgendwann der Durst. Bald ist Jakob so durstig, dass er nur noch ein, zwei Stunden am Stück schlafen kann. Wenn er zu sich kommt, hält Milena ein Glas bereit. Das kalte Wasser bringt Erleichterung, aber immer nur für kurze Zeit. In seinen Träumen vertrocknet Jakob. Er sieht sich selbst auf einem staubigen Boden liegen, mit welker Haut und rissigen Lippen. Wenn er erschrocken auffährt, legt Milena ihm eine Hand auf den Arm. Ihre Finger sind angenehm kühl auf seiner Haut.
Am Nachmittag versucht er, Brot zu essen, und muss sich übergeben. Später am Abend beginnt Milena, ihm löffelweise einen geschmacksarmen Brei zu verabreichen.
»Das ist das Fieber«, erklärt sie, als er versucht, sich aufzurichten, und wieder zurücksinkt. Sie streckt die Hand aus, wie um ihm übers Haar zu streichen, dann schaut sie verlegen und zieht sie zurück.
Langsam erholt er sich. Noch immer ist ihm der Schlaf ein Ozean, und die Momente, in denen er zu sich kommt, sind nicht mehr als kleine Inseln, auf denen er nie länger verweilt. In seiner Abwesenheit scheint die Welt stillzustehen; wann immer er auftaucht, zeigt sie sich unverändert. Der Raum ist derselbe, und Milena ist dieselbe, trägt dieselbe nachtblaue Uniform und dieselbe streng gescheitelte Frisur, begrüßt ihn mit demselben Lächeln. Bis zu der Stunde, da er blinzelnd die Augen öffnet und der Stuhl neben ihm leer ist. Mit klopfendem Herzen setzt er sich auf – es gelingt ihm auf Anhieb und ohne dass ihn der Schwindel zurückwirft. Er findet
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