Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
angestrengten Husten, fand sie sich jeden Tag aufs Neue vor seiner Tür wieder, wartete vor der Schule auf ihn, lief während des Heimwegs neben ihm her.
Die anderen Kinder lachten, zunächst nur über den mageren, hustenden Jungen, später dann auch über sie. Milena war es gleich. Sie hätte ihn stundenlang ansehen können; an einen Vogel erinnerte er sie, mit seinen zarten Knochen und der stets gegenwärtigen Gefahr des Zerbrechens, des krachenden Knackens. Und wie ein aufgeregtes, flatterndes Tier wollte sie ihn in die Hände nehmen, ihn halten und schützen und vor allen Unwägbarkeiten bewahren.
Wie sie im Glaskuppelraum steht und verharrt, nicht den Mut findet, sich noch einmal nach dem Mann umzudrehen, ihn genauer zu mustern, gesteht sie sich für einen kurzen Augenblick die Möglichkeit zu, ihn wiedergefunden zu haben.
»Wer ist das? Wie heißt er?«, fragte sie Phyllis.
Sie beugen sich über seine Krankenakte.
»Kennst du ihn?«, fragt Phyllis.
Und Milena will nicken und liest seinen Namen, Jakob, liest sie und schüttelt den Kopf.
Als sie ihn das nächste Mal sieht, da ist es ihr ein Rätsel, wie sie ihn hat verwechseln können. Seine Nase ist zu schmal, die Form seiner Lippen und Augen unvertraut, bis auf das zerbrechlich Bleiche hat er keine Ähnlichkeit mit ihrem Vogeljungen. Und trotzdem kann sie sich nicht mehr von ihm lösen, bleibt ihr Blick an ihm haften, wenn sie ihn durch den Glaskuppelraum wandern sieht. Dann wünscht sie sich, die anderen Patienten verschwänden allesamt und auf einen Schlag, sodass sie ihn ungehindert ansehen könnte. Sie umkreist ihn, bewacht ihn, hält sich stets in seiner Nähe auf.
Und dann eines Nachmittags geschieht es von selbst, ohne dass sie einen Entschluss gefasst, eine Entscheidung getroffen hätte, setzen sich ihre Füße in Bewegung. Ihr Körper trägt sie mit leerem Kopf und schnell schlagendem Herzen zu seiner Liege. Noch während sie sich ihren Weg zwischen den Patienten hindurchbahnt, ist sie sicher, dass sie kurz vor dem Ziel umkehren, abbiegen oder stehen bleiben wird, tatsächlich kommt sie erst unmittelbar vor ihm zum Stillstand.
Zunächst bemerkt er sie nicht, aber als er den Kopf hebt, als er sie ansieht, da bricht ein ohrenbetäubender Lärm über sie herein. Ein Rauschen, ein Brausen, ein irres Klopfen. Noch bevor sie sich die Hände schützend vor die Ohren halten kann, begreift sie, dass der Lärm in ihr selbst ist, dass es ihr Blut ist, welches laut in den Adern rauscht. Bis auf das verhaltene Murmeln und Schlurfen ist es im Glaskuppelraum noch immer still.
*
Als Phyllis ihr von seinem Fieber erzählt und wie sie sicher waren, dass er die Nacht nicht überleben werde, da muss Milena sich abstützen. In ihrem Mund liegt ein metallener Geschmack, die Haut über ihrem Brustkorb ist zu eng gespannt, es fällt ihr schwer zu atmen, sich zu bewegen. Erst ein Mal zuvor hat sie einen Schrecken ähnlich erfahren, als sie ein Kind war und das Aufziehen der Wolken beobachtete.
Kaum, dass sie sich gefangen hat, eilt sie zur Krankenstation. Immer wieder muss sie stehen bleiben, sich festhalten an einem der Schiebewagen, vollbepackt mit Medikamenten und Wasserflaschen. Sie versteht, dass sie ohne jedes rechte Maß fühlt und fürchtet. Er ist ein Patient, mit dem sie kaum gesprochen hat, den sie nicht kennt. Ein Patient, der sie an jemanden erinnert, den sie vor langer Zeit einmal kannte. Patienten sterben auch an Bord des Luftschiffs, das hat sie vorher gewusst. All das erklärt sie sich in der Stimme der Vernunft; Milena hört sie laut und deutlich, darüber und davor aber spricht jemand anderes, spricht unzusammenhängend, aufgelöst, fleht vielmehr, klagt und bittet. Du hast ihn doch gerade erst gefunden, sagt diese andere Stimme, du kannst ihn doch nicht gleich wieder verlieren.
Nicht in den Straßen der Nachstadt, nicht in den Krankenhäusern, in denen sie gearbeitet, nicht in den Museen, den Restaurants, den Kinosälen, den Einkaufszentren, die sie besucht hat, sondern hier an Bord des Luftschiffs ist es ihr gelungen, jemanden zu finden.
Als sie ihn sieht, erschrickt sie. Lebt er noch, oder ist er still und heimlich, ohne dass es eine der Schwestern bemerkt hätte, gestorben? Schnell kontrolliert sie seinen schwachen Puls, seine flache Atmung. Ihre Bewegungen sind fahrig, ihre Hände zittrig, als sie ihm die verschwitzte Stirn abtupft, die feuchten Laken wechselt und die Temperatur der Wärmelampen kontrolliert. Sie ist abgelenkt, in Gedanken
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