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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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Navigieren, das genaue Beachten eines Netzes aus Konventionen, die Milena so fremd sind, dass sie sich immer wieder darin verfängt.
    Nachdem sie in die Stadt gezogen war, fragte die Mutter sie oft, ob sie dort schon Freunde gefunden habe.
    Sie schwieg dann betreten. Freunde zu finden, das erschien ihr wie ein unwahrscheinlich aufwendiger, komplizierter Vorgang; in dem Gewusel und Gewimmel der Nachtstädter Straßen die ein, zwei Menschen auszumachen, zu finden , die sie als mögliche Freunde erkennen könnte. Wenn überhaupt – diesen unbestimmten Verdacht äußerte sie der Mutter gegenüber nie –, würde schon jemand sie finden müssen.
    An Bord des Luftschiffes nun wird sie gefunden. Von Phyllis.
    Ob Milena nicht mit ihr in die Stationsküche kommen wolle, um einen Kaffee zu trinken, fragt Phyllis.
    Milena schüttelt den Kopf.
    Ob sie nicht abends mit Phyllis und den anderen Karten spielen wolle.
    Milena schüttelt den Kopf.
    Ob sie nicht vormittags, nachmittags, abends dieses oder jenes unternehmen wolle.
    Milena schüttelt den Kopf.
    Erst als Phyllis aufhört, Milena nach Kartenspielen und Kaffee zu fragen, erkennt Milena, dass sie voreilig gewesen ist. Doch Phyllis trägt ihr das wiederholte Kopfschütteln, das »Lieber nicht« und »Nein danke« nicht nach. Ihre Mutter kommt von der Nordküste, und obwohl sie selbst in der Nachtstadt großgeworden ist, kennt sie den besonderen Menschenschlag und die Eigenarten der Küstenbewohner. Sie bleiben nun einmal gern für sich, jeder ihrer Annäherungen geht ein sorgfältiges Abwägen voraus.
    Man sieht die beiden nun oft zusammen. Anders als die anderen Schwestern und Pfleger tuscheln und kichern sie nicht, sondern flüstern und sprechen mit ernsten, leisen Stimmen. Im Glaskuppelraum stehen sie nebeneinander und beobachten die Patienten, jenes verschwiegene Heer weißer Schöpfe.
    Manchmal, gesteht Phyllis Milena, seien sie ihr unheimlich.
    »Sie sehen einander so ähnlich«, sagt Phyllis, als Milena sie fragt, wovor sie sich fürchte. Nicht nur Phyllis, auch die anderen Schwestern und Pfleger denken über die Bleichen wie über eine den Menschen zwar verwandte, doch klar von ihnen unterscheidbare Spezies. Es ist nicht nur ihr zerbrechliches, gespenstisches Aussehen, das sie absetzt, sondern auch ihre Art, sich zu bewegen, schlafwandlerisch und unsicher. Man sieht ihnen den Schwindel an. Und wenn sie sprechen, dann in ihrer eigenen Sprache, einem murmelnden Gestammel.
    Milena aber sieht vor allem die Unterschiede: Jene, die erst vor kurzem erkrankten, sind noch unruhig, halten es kaum auf ihren Liegen aus, stehen immer wieder auf, laufen zur Toilette, suchen eine Schwester oder einen Pfleger, verlangen nach den Ärzten und neuen Terminen und Testergebnissen und weiteren Gesprächen. Widerwillig lassen sie sich zurück zu ihrer Liege führen, nur um wenige Minuten später erneut aufzuspringen. Ihre Mundwinkel zucken, ihre Augen rucken umher. Sie fürchten sich noch, sie hoffen und kämpfen.
    Und dann gibt es jene, in die die Krankheit bereits weit eingedrungen ist. Mit glasigen Augen starren sie in den Raum, bewegen sich kaum und wiegen auch auf die einfachsten Fragen hin nachdenklich den Kopf. Die Stillen, die fast schon Abwesenden, die beinahe Fortgegangen, sie sind es, um die Milena bangt.
    *
    Als sie ihn das erste Mal sieht, da erkennt sie ihn, zumindest glaubt sie das für einen kurzen Moment. Sie verlangsamt ihren Schritt und wirft ihm einen zweiten vorsichtigen Blick zu. Nein, sie hat den Mann noch nie gesehen, sie muss ihn mit jemandem verwechselt haben. Sie wendet sich ab, läuft los und bleibt abrupt stehen. Jan, denkt sie plötzlich. Der Mann erinnert sie an Jan.
    Jan … Sein Nachname will ihr nicht mehr einfallen. Dass sie ihn das letzte Mal gesehen hat, muss Jahre zurückliegen, damals war sie selbst noch ein Mädchen, und er, ein etwa gleichaltriger Junge, wohnte im Nachbarhaus. Wenn sie ihn vor sich sieht, dann sieht sie einen Zehnjährigen, älter wird er in ihrer Vorstellung nicht. Er verschwand irgendwann; warum und wohin, weiß sie nicht mehr. Vielleicht zog seine Familie weiter landeinwärts.
    Der Junge war immer allein, spielte nie mit den anderen Kindern, oder vielleicht spielten die anderen Kinder nie mit ihm. Er war ein kränkliches Kind. Sie erinnert sich an das ewige Rasseln und Röcheln seines Atmens und an das kleine Gerät, das er bei sich trug – ein Asthmaspray, wie sie heute weiß. Obwohl sie sich ein wenig fürchtete vor seinem

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