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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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aufgewachsen sein muss mit diesen Geschichten, dass sie aus ihrer Heimat stammen.
    »Du kommst von der Küste, nicht?«, fragt er sie. Kaum, dass er die Frage gestellt hat, weiß er, dass er einen Fehler gemacht hat. Von einem geheimen, tief verborgenen Punkt aus richtet Milena ihren Körper auf, ihre Schultern spannen sich an, sie hebt das Brustbein, hält den Kopf sehr gerade. Es ist die wachsame Haltung einer Ertappten.
    »Wegen der Geschichten«, fügt er schnell hinzu und deutet auf das Buch.
    Sie nickt, ihre Haltung bleibt unverändert, ihr Gesichtsausdruck angespannt.
    »Ich meine bloß, weil ich schon immer einmal an die Nordküste wollte.«
    Einen Augenblick sitzt sie noch still, dann erhebt sie sich abrupt.
    »Niemand will an die Küste«, sagt sie kurz angebunden.
    Er setzt zu einer gemurmelten Entschuldigung an, als sie sich bereits von ihm abwendet. In dem kurzen Moment aber, bevor sie ihm den Rücken zuwendet, sieht er, dass sie lächelt.
    Milena
    Milena spricht nur, wenn sie muss.
    Auf Fragen antwortet sie mit einem knappen »Ja« oder »Nein«. Bei den gemeinsamen Essen schweigt sie. Wenn die Schwestern und Pfleger abends Karten spielen oder sich gemeinsam Filme ansehen, geht sie früh zu Bett oder liest.
    Milena spricht nur, wenn sie muss, und wenn sie sprechen muss, erschrickt sie selbst, weil ihr die Worte wie immer zu hart und zu kantig von den Lippen gegangen sind. Ihrer Sprache fehlt jene für die Nachtstädter typische Schwere, jene Art Kleister, der die Worte verkleben und zu einem freundlichen Brei werden lässt.
    Wenn Milena spricht, dann hört man ihr die Küste an.
    Wäre es doch nur die Sprache; aber sie weiß, dass man es ihr auch ansehen kann. Ähnlich wie ihre Worte scheinen auch ihre Bewegungen abgehackt und ungelenk, jedes Gespräch, jede Begegnung wird für sie zum angestrengten Schauspiel. Sie beobachtet die Schwestern, wie sie durch die Gänge schweben; wie sie sprechen, wie sie sich bewegen, was immer sie tun, es erscheint leicht, mühelos. Manchmal glaubt Milena, alle anderen verbinde ein geheimer Scherz, ein geheimes Wissen; es kommt ihr dann so vor, als begleite ein konspiratives Augenzwinkern jeden Satz und verleihe ihm eine zusätzliche, versteckte Bedeutung, die sich Milena, anders als allen anderen, nicht erschließt.
    Zwischen dem grobkörnigen Sand, den sich grau auftürmenden Wolken, den Klippen und dem unruhigen Meer ist sie geformt und geschliffen worden, zu jemandem, der an die Küste gehört, aber an keinen anderen Ort zu passen scheint.
    Gleich an ihrem ersten Tag auf der Nereid 23 und noch bevor Milena sich durch ihre Aussprache hätte verraten können, fragte eine der Schwestern sie, ob sie nicht von der Nordküste komme, und weiter, wie es gewesen sei, dort aufzuwachsen. Milena zuckte die Achseln, als verstünde sie die Frage nicht, tatsächlich aber verstand sie genau.
    An der Nordküste waren die Wolken aufgezogen, lange bevor sie sich im Rest des Landes bemerkbar machten. Es gab keine allmähliche Veränderung, keine graduelle Verschlechterung. Es gab ein Davor, ein Danach und einen Wechsel, der sich so schnell und endgültig vollzog, dass den meisten Küstenbewohnern die Zeit vor den Wolken, die hellen Tage, schon bald wie ein Märchen, eine fragwürdige Geschichte erschienen. Milena aber erinnert sich an den Wechsel, erinnert sich daran, wie sie aufschreckte, mitten in der Nacht, und ihr war, als habe jemand in dem dunklen Kinderzimmer zu ihr gesprochen. Der Morgen war noch Stunden entfernt, doch die Vorstellung, länger im Bett liegen zu müssen, war ihr unerträglich. Also kletterte sie aus dem Bett, verließ das Zimmer und das Haus, lief nach draußen und zum Strand. Und das Meer war, wie sie es kannte, unverändert grau und weit, die Wolken darüber aber hatten sich gewandelt, in Berge, in Wälle aus Stein, in etwas Endgültiges. Ihr Herz schlug schneller. Ein Unglück stand bevor, nein, es war bereits eingetreten, und obwohl sie ihm keinen Namen geben konnte, ließ sein Ausmaß, die schiere Größe jener Veränderung, die sich über den gesamten steinernen Himmel erstreckte, sie starr vor Angst werden. Statt zurück zu ihrer Mutter zu laufen, um ihr atemlos von einer Katastrophe zu berichten, die sie selbst weder recht begreifen noch beschreiben konnte, blieb sie so lange draußen am Strand, bis ihr die Beine nachgaben und sie in den feuchten Sand sackte.
    *
    Freundschaften sind Milena noch nie leichtgefallen. Sie erfordern ein sorgfältiges

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