Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
spricht sie zu jemandem, einer geheimnisvollen Entität, die sie sich unvorstellbar groß und schwer fassbar wie die Wolken vorstellt. Sie verhandelt nachdrücklich um Jakobs Leben: Nicht jetzt, sagt sie, er ist für mich hier, wegen mir, und ich für ihn, lass ihn mir. Ich habe ihn gefunden.
Dann wartet sie.
Sie beobachtet Jakobs Gesicht, sucht seine geschlossenen Lider, seinen leicht geöffneten Mund auf Zeichen eines inneren Kampfes ab. Sie flüstert ihm geheime Botschaften zu, Versprechen und Versicherungen. Der Ausdruck auf seinem Gesicht aber bleibt unbewegt, erscheint unbeteiligt an seiner eigenen Krankheit. Was immer in seinem Kopf geschieht, Milena bleibt außen vor. Bloß einmal, tief in der Nacht, die hier so gleißend hell wie der Tag ist, reißt er die Augen auf. Sie beugt sich vor und lächelt, aber er sieht durch sie hindurch, wenige Sekunden später schließen sich seine flatternden Lider wieder ganz.
Bevor Milena in die Nachtstadt ging, um als Schwester im Zentralkrankenhaus zu arbeiten, war sie in einem Hospital an der Küste angestellt. Das Hospital, mehr ein Kur- als ein Krankenhaus, war ein beliebter Erholungsort vorwiegend für ältere Damen, die man nach einem schweren Eingriff oder langer Krankheit ans Meer geschickt hatte. Manchen der Frauen, vor allem jenen, die selten oder nie Besuch bekamen, las Milena an den langen Nachmittagen vor. Auch wenn sie selbst unter dem beklemmenden Gefühl litt, zu wenig oder gar nicht zu helfen, versicherten ihr die Frauen, dass ihr ruhiges, leises Sprechen nicht nur wohltuend sei, sondern einen Unterschied mache, die Heilungsschmerzen lindere und maßgeblich zu ihrer Gesundung beitrage.
Jetzt liest Milena für Jakob. Während sie von Inseln und Leuchttürmen erzählt, denkt sie sich ihn an einem weit entfernten Ort, einem bauschigen Nichts, einem Nebelmeer, in welchem er verloren gegangen ist. Manchmal kommen ihr Zweifel, ob er sie dort hören kann, ob er Gefallen findet an den düsteren Erzählungen von gekenterten Schiffen und schweren Stürmen, ob er die Stille nicht vorziehen würde. Aber weil sie nichts anderes für ihn tun kann, als zu ihm zu sprechen, liest sie weiter.
Das Meer ist grau , liest sie, der Himmel auch .
Am zweiten oder dritten Tag – das Zeitgefühl hat sie längst verloren – richtet Jakob sich auf. Er blinzelt sie an, räuspert sich und krächzt. Schnell steht sie auf und schenkt ihm einen Becher Wasser ein. Während er trinkt, hält sie seinen Kopf, und ihre Hände zittern. Ist er zu ihr zurückgekehrt?
Immer öfter kommt er zu sich, hustend und plötzlich nach Luft ringend, erschrocken über sein eigenes Erwachen. Sie hat gelernt, ein Wasserglas für ihn bereitzuhalten, denn stets ist er durstig, greift nach dem Glas und trinkt in schnellen, gierigen Zügen.
Sein Schlaf ist nicht länger tief und unbewegt, sondern unruhig, ab und an sagt er ihren Namen, streckt die Hand aus, nach ihr oder ihrem Buch, das jetzt immer auf seinem Nachttisch liegt.
Sie beginnt dann zu lesen.
»Dass der sich noch einmal erholt«, sagt ein Arzt, mehr verwundert als erfreut. Milena nickt zustimmend, als würde auch sie es nicht verstehen, tatsächlich hat sie keinen Zweifel: Sie hat ihn zurückgeholt.
Jakob
Am Morgen erklärt ihm Milena, dass er in seine Kabine zurückdarf.
»Aber wo werden wir uns sehen?«, fragt er sie.
Als sei die Frage nicht von Belang, antwortet sie leichthin:»Bestimmt im Glaskuppelraum.«
Er dreht den Kopf zur Seite und von ihr fort. Weil er sie nicht mehr ansehen will, weil er außerdem fürchtet, jeden Augenblick zu weinen. Es muss die Krankheit sein, die Schwäche und das Fieber, das sich noch immer in seinen Gliedern hält. Er kennt die Frau doch gar nicht, ermahnt er sich, weiß nichts über sie, außer dass er keine Worte findet für das Blau ihrer Augen und ihr ein Buch voller dunkler Geschichten gehört.
Wieder in seiner Kabine, ist es vor allem ihre Stimme, die ihm fehlt. An seinem ersten Abend liegt er lange wach und wartet darauf, dass das Fieber zurückkommt, sich sein Zustand verschlechtert. Mit einem Mal ist er sicher, dass er hier in dieser Kabine sterben wird, die Angst umschließt ihn ganz, drückt ihm auf den Brustkorb, sodass er nur noch flach atmen kann. Er malt sich aus, wie Milena von seinem Tod erfährt, wie die Ärzte ihr die überraschende Nachricht überbringen. Niemand verstehe, warum es ihm wieder schlechter gegangen sei; und: er habe oft nach ihr gefragt.
Statt zu sterben, erholt er
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