Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
sich.
Im Spiegel und mit bloßem Auge lässt sich die Genesung zunächst nicht erkennen. Sein Haar und seine Iriden sind noch immer weiß, seine Haut ist noch immer bleich, er ist noch immer träge und hat noch immer keinen Appetit. Und trotzdem kann er die Veränderung nicht leugnen: Die Farben kommen nicht in seinen Körper, wohl aber in die Welt zurück, das Spektrum fächert sich immer weiter auf, zwischen dem Weiß und dem Grau macht sich ein dunkles Blau bemerkbar, ein mattes Rot.
Zwar schläft er noch ausnehmend viel, doch gelingt es ihm, die Augen länger offen zu halten. Auch die Schwestern versteht er besser. Es ist nicht dasselbe wie mit Milena, aber wenn sie ihm die Worte langsam und vorsichtig reichen, ihm den Kopf zuwenden, sodass er ihre Lippen sieht, dann kann er das Gesprochene zum größten Teil erfassen.
Seit beinahe zwei Tagen hat er Milena nicht gesehen. Weiß sie, dass es ihm besser geht, dass er sich erholt? Er betrachtet sich im grell beleuchteten Spiegel und fragt sich, was sie tut, ob sie in diesem Moment an einem anderen Bett sitzt, jemand anderem ihre Geschichten vorliest.
In der Nacht weckt ihn ein leises Klicken. Er öffnet die Augen und sieht Milena, die den Raum betritt. Reglos beobachtet er, wie sie die Tür sacht hinter sich schließt, reglos bleibt er auch, als sie leise durch die Kabine auf ihn zukommt. Erst als sie sich neben ihn setzt, er die Wärme und Schwere eines zweiten Körpers spürt, versteht er, dass er nicht träumt. Als sie ihm eine Hand auf den Unterarm legt, weicht er unwillkürlich an das Kopfende des Bettes zurück.
»Mach die Augen zu«, sagt sie, und als er sie bloß weiter anblinzelt: »Manche Geschichten kann man bloß im Dunklen hören.«
Er schließt die Augen, hört das Rascheln der Seiten, als sie nach der richtigen Geschichte sucht. Das helle Licht der Deckenlampe drängt gegen seine geschlossenen Lider. Erst als sie anfängt zu sprechen, da kommt es ihm so vor, als wäre es draußen, in dem kleinen Zimmer und auf dem ganzen Luftschiff endlich Nacht geworden.
Es waren einmal zwei Brüder , beginnt Milena zu lesen.
*
Mit der allmählichen Verbesserung seines Zustandes erwacht Jakobs Interesse am Luftschiff. Es ist nicht länger nur ein verschwommenes Feld, eine Aneinanderreihung von Flecken, seine Augen erfassen nun wieder Details und Nuancen, und seine Umgebung zersetzt sich in hundert einzelne Bestandteile, unterschiedliche Flächen und Strukturen.
Wenn Jakob sich nicht im Glaskuppelraum oder in seiner Kabine aufhält, streift er umher. In den innenliegenden Fluren gibt es nicht viel zu entdecken bis auf die roten Teppiche mit ihren komplizierten Mustern, einer Anordnung von Kreisen und Spiralen, die es ihm schwindelig werden lässt. In den außenliegenden Fluren aber hat er schnell seinen Lieblingsplatz gefunden. Auf dem Deck unmittelbar unterhalb des Glaskuppelraums weitet sich der Flur zu einem Aufenthaltsbereich aus. Vor den bodentiefen Fenstern stehen zwei Bänke. Da sich selten jemand außer Jakob dort aufhält, kann er meist auswählen, ob er sich auf die rechte oder die linke setzt. Bis er eines Nachmittags Milena dort vorfindet.
Zwei Gedanken gehen ihm genau gleichzeitig durch den Kopf:
Erstens, dass sie beide zufällig denselben Rückzugsort gewählt haben.
Zweitens, dass Milena ihn während der letzten Tage beobachtet hat und ihm hierher gefolgt ist.
Aber nein, wie sie auf der Bank sitzt, in ihr Buch vertieft und ganz bei sich, da kann er sie nicht recht zusammenbringen mit jener Frau, die Nacht für Nacht an sein Bett kommt, um ihm vorzulesen. Und obwohl er die vergangenen Tage hier verbracht hat, diesen Ort als seinen begreift, fühlt er sich als Eindringling, ist überzeugt, dass sie fragend aufschauen und ihn irritiert mustern würde, sollte er sie ansehen. Befangen setzt er sich auf die linksstehende Bank und sieht nach draußen. Der Himmel hinter dem Glas ist blau, so wie er ihn nur aus weit zurückliegender Erinnerung kennt. Die klare Luft lässt Jakob an Wasser denken, an das Meer, doch statt eines sandigen Grundes liegt unter ihnen die dichte Wolkendecke. Von hier oben betrachtet haben die Wolken wenig gemein mit dem steinernen Firmament, das er lange Zeit über sich sah. Fast meint er, in dem bauschigen Weiß Gesichter und Körper ausmachen zu können, luftige Arme und Beine, Hände und Köpfe.
Noch immer ist Milena in ihr Buch vertieft, und während Jakob sie beim Lesen betrachtet, wünscht er sich, dass er
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