Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
alles überhaupt keinen Unterschied. Wir würden es ohnehin nicht schaffen, den Engel aus den Kellern zu holen, ihn zu verkaufen.«
Er schließt die Augen. Moira betrachtet seine geschlossenen Lider, die eingerissenen Mundwinkel. Ob sie ihn packen und aus der Wohnung schleifen kann? Aber dann müsste sie ihn auch durch das Treppenhaus zerren und hinaus auf die Straße. Und dann? Sie kann ihn schlecht über den Gepäckträger werfen. Das Fahrrad ist kein Pferd und sie kein Cowboy. Sie schluckt, ihr Hals schmerzt, ihre Haut juckt, auf den Händen haben sich rote Flecken gebildet. Sie ist schon viel zu lange in Basenzia.
»Dann genieß die Aussicht«, sagt sie unvermittelt, dreht sich um und verlässt das Loft.
Jonas sitzt in seinem Sessel und lauscht, wie sich Moiras Schritte entfernen. Und plötzlich erinnert er sich an einen Tag, der so lange zurückliegt, dass er Jahre nicht mehr daran gedacht hat. Auch er war einmal mit seiner Mutter in eine der Küstenstädte gefahren. Bloß für einen Nachmittag. Er fürchtete sich vor dem Wasser, dem fehlenden Beckenrand, der Weite. Aber weil die Mutter ihm mit dem Ausflug eine Freude hatte machen wollen, ließ er sich nichts anmerken, tat es ihr gleich und entfernte sich mit raschen Zügen vom Strand. Bis er merkte, dass er zu weit geschwommen war. Er würde es nicht zurückschaffen, er war verloren, in jedem Sinne des Wortes: Der Mutter und dem Festland abhandengekommen, das Meer würde ihn weiter und weiter nach draußen tragen. Und die Angst, die ihn flutete, war anders als jedes ihm bekannte Gefühl. Es war eine eisige Hitze, die er im Kiefer und im Brustbein fühlte, einen Moment ließ sie ihn gefrieren, dann aber trieb sie ihn an, setzte etwas frei, ein anderes Ich, das den Weg zum Strand zurücklegte, frei von Erschöpfung und Schwäche.
Es ist dieselbe Angst, die ihn jetzt überkommt, ihn aufstehen lässt. Sein erster Schritt ist unsicher, genau wie der zweite. Der dritte und der vierte fallen ihm leichter und er stolpert, halb laufend, halb gehend, zur Tür, reißt sie auf und fällt ins Treppenhaus. »Warte!«, ruft er.
Im Treppenhaus ist es still. Zu spät, denkt er. Sie hat das Haus bereits verlassen. Ihm wird übel, ihm wird heiß und kalt, schwindelig ist ihm ohnehin immer. Er bleibt liegen. Auch wenn Moira verschwunden ist, kann er nicht in die Wohnung und nicht in den beigefarbenen Sessel zurück.
Als sie ihn rufen hört, bleibt Moira stehen. Sie legt den Kopf in den Nacken.
»Ja?«, ruft sie zurück. Es bleibt still. Gerade als sie denkt, dass sie sich geirrt haben muss, taucht viele Meter über ihr sein Gesicht auf.
»Warte«, ruft er. »Warte noch kurz.«
Und Moira wartet. Nicht kurz, sondern eine lange Zeit, eine Ewigkeit, scheint es ihr. Sie wartet, während Jonas in die Wohnung zurückläuft, das Wenige zusammenpackt, das er finden kann, den Bademantel gegen Pullover und Hose tauscht; sie wartet, während er mit dem Abstieg beginnt, Stockwerk um Stockwerk zurücklegt, zuerst schnell, dann langsamer, und während sie wartet, schließt sie die Augen, denn auch im dämmrigen Treppenhaus brennt das grüne Licht auf ihren Netzhäuten. Bei Moira angekommen, lässt Jonas sich auf die Stufen fallen. »Ich bin lange nicht mehr unten gewesen«, sagt er und hustet.
Moira klopft ihm auf die Schulter, und Staub wirbelt auf. Sie zieht die Hand zurück und betrachtet seinen Rücken, die hervorstehenden Schulterblätter unter dem blauen Stoff. Obwohl ihm Schweiß auf der Stirn steht, hat sich keine Farbe in sein Gesicht gestohlen, scheint seine Haut beinahe weiß. Hoffentlich schafft er es, denkt sie und wundert sich im selben Moment über den Gedanken. Kann man am Wechsel sterben? Nicht weil man es nicht mehr aushält und von einer Plattform springt, sondern weil der Körper tatsächlich stirbt? Kann man?, fragt sie sich, blickt auf Jonas hinunter und reicht ihm die Wasserflasche. »Trink noch etwas«, sagt sie.
Er trinkt, hustet, spuckt Galle und wischt die Spuren fort wie eine Peinlichkeit.
Man kann, vermutet sie.
*
Jonas sieht ihr zu, wie sie das Sicherheitsschloss ihres Fahrrads aufschließt. »Ich wusste nicht, dass es noch welche gibt. Ich dachte, alle wären in den Kellern.«
Moira streicht über das Rad und deutet in Richtung der Anhöhe. »Dort oben ist Pips. Aber wir haben keine Zeit, es zu holen. Es muss so gehen.« Sie deutet auf den Gepäckträger.
Jonas lacht, schnaubt oder stöhnt. Sie ist nicht sicher. Die müden Geräusche, die er von
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