Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
letzte Jahr über in dem Haus gelebt, verbotenerweise, ohne Strom, ohne Wasser und ohne Heizung.
Als wir das Haus erreichen, ist es erst neun Uhr, und die Party hat noch nicht recht begonnen. Vereinzelte Menschen sitzen auf der geländerlosen Treppe und auf den Fensterbänken. Wohin ich auch schaue, sehe ich abgeblättertes Holz, laubbedeckte Dielen und gesprungenes Glas. Die Fensterscheiben sind blind vor Schmutz, in den Ecken liegen kleine Häufchen aus Staub, Asche, Papierchen und anderem Dreck.
»Wir sind viel zu früh«, beschwert sich Lisa, die erst in einigen Stunden hatte auftauchen wollen.
Weil Nils genau wie ich am nächsten Morgen wieder in der Bibliothek sitzen muss, hat er ihr den späten Aufbruch ausgeredet. Mir ist es gleich, ich denke mir aber: Wer früh kommt, darf auch früh wieder gehen.
Ich habe eine Flasche Rotwein mitgebracht, aber dies scheint nicht die Art Party zu sein, auf der man mit einem Gastgeschenk auftaucht. In dem Raum, den man zur Küche ernannt hat (ich weiß nicht, warum, es gibt keinen Kühlschrank und keinen Herd), öffne ich die Flasche und schenke mir großzügig ein. Um halb zehn habe ich bereits zwei Plastikbecher Wein getrunken.
»Bist du sicher, dass Lisa hier überhaupt jemanden kennt?«, frage ich Nils.
Er schaut mich an, als hätte ich einen schlechten Scherz gemacht, aber ein angstvolles Aufflackern in seinen Augen verrät mir, dass er bereits denselben Verdacht hegt. Bisher hat uns zwar niemand aus dem Haus geworfen, es freut sich aber auch niemand, uns zu sehen, niemand redet mit uns, und Lisa spricht die ganze Zeit mit einem mausigen Mädchen, das ebenfalls niemanden zu kennen scheint.
»Ich bin eine Freundin von Lisa!«, sage ich atemlos und viel zu laut, als ein hagerer, bärtiger Mann mich minutenlang eindringlich anstarrt. Dann fliehe ich, weil ich sicher bin, dass er uns auf die Schliche gekommen ist und wir nun alle drei hinausgeworfen werden. Erst im Nachhinein verstehe ich, dass ich wahrscheinlich den einzigen Annäherungsversuch des Abends vereitelt habe. Ich halte mich an meinem Wein fest und leere Becher um Becher wie Medizin in entschiedenen Zügen und im festen Glauben, dass eine Besserung meines Zustandes unmittelbar bevorstehe. Tatsächlich wird mein Kopf bloß schwer, und bald schon hält mich nur noch die Angst wach, ich könnte im Stehen, gegen die unverputzte Wand gelehnt, einschlafen. Mit großer Sicherheit würde ich dann ausgeraubt und/oder vergewaltigt werden.
Ich beschließe, dass es ein Fehler gewesen ist zu kommen, ich mich nun doch lieber in meiner Wohnung einschließen oder allein in einem winterlichen Pavillon stehen würde.
Da sehe ich dich.
Nur wenige Meter entfernt lehnst du in einem Türrahmen. Falls du es tatsächlich bist. Denn in dem Augenblick bin ich mir nicht sicher. Während ich meinen Plastikbecher im viel zu festen Griff knacken lasse und mit meinen kontaktlinsentrockenen Augen blinzle, bin ich mir ganz und gar nicht sicher. Nicht, weil ich dich nicht erkennen würde; ich erkenne dich, am Blau deiner Schuhe, am Blau deiner Augen und wie du dich gegen die Wand drückst. Nur halte ich dich eher für eine Erscheinung als für eine Tatsache. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns ein weiteres Mal per Zufall über den Weg laufen?
Vorsichtig sehe ich mich nach Lisa oder Nils um, kann aber keinen der beiden entdecken, auch sonst beobachtet mich niemand. Zögernd winke ich dir zu. Und zögernd winkst du zurück.
Später, nachdem ich dir von meinem Wein angeboten und du auf deine Bierflasche gedeutet hast, nachdem ich meine Weinflasche alleine geleert und mich neben dich auf ein ockerfarbenes, rückgratloses Sofa gesetzt habe, fangen wir endlich an, miteinander zu sprechen. Zunächst über den Sturz, an den wir uns noch gut erinnern können, über das Haus, das nun bald nicht mehr sein wird, über die Bewohner, die ich nicht kenne, den Garten, in den ich mich nicht traue. Irgendwann taucht Nils auf. Lisa sei müde, sie würden jetzt gehen, falls ich mitkommen wolle.
Nein, ich will nicht. Und ich kann auch nicht. Der Wein hat nicht nur meinen Kopf, sondern auch meine Beine schwer gemacht. Gut möglich, dass ich für immer neben dir sitzen bleiben werde. Den Rest des Abends spreche ich mit niemandem außer dir und du mit niemandem außer mir, und darum denke ich, dass du, genau wie ich, niemanden sonst kennst. Ich bin bereits zu betrunken, um zu bemerken, dass du Menschen zur Begrüßung oder zur Verabschiedung
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