Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
sagt Moira und setzt sich neben ihn auf die Fensterbank.
Auf ihrer Reise durch die Zentralstadt begegnen Moira und Jonas niemandem. Über ihren Köpfen kreisen vereinzelt schwarze, große Vögel, deren Namen Jonas vergessen hat. Ihr Krächzen klingt nach Winter. Moira legt den Kopf in den Nacken, besieht sich die dichten Wolken. Der Himmel ist hier nicht grünlich verfärbt wie in Basenzia, sondern von gewohnt tristem Grau. Seit Monaten ist der Himmel über der Wechselstadt bewölkt, sie wartet auf den großen Regen und weiß gleichzeitig, dass er nicht kommen wird.
Jonas auf dem Gepäckträger murmelt Anweisungen, lenkt Moira durch die Straßen der Zentralstadt und immer tiefer ins Herz der Wechselstadt hinein. Als sie sich einem verlassenen, heruntergekommenen Fabrikgelände nähern, drückt er ihren Arm.
»Das ist es«, sagt Jonas, und Moira hält an.
»Hier?«, fragt Moira enttäuscht.
»Betreten verboten« warnt ein rostiges Schild an einem rostigen Zaun. Obwohl Moira glaubt, sich in der Zentralstadt einigermaßen auszukennen, ist sie sicher, die Fabrik noch nie gesehen zu haben.
»Pip und ich haben wochenlang versucht herauszufinden, wo die Keller sind. Wir dachten, es wäre ein besonderer Ort, wie das Museum für Statik.«
Jonas nickt. »Da waren sie früher. Aber vor ungefähr zwei Jahren haben sie die Fabrik gebaut.«
Moira runzelt die Stirn. Die Fabrik sieht verfallen aus, so als sei sie seit vielen Jahren nicht mehr in Betrieb. Neben dem »Betreten verboten«-Schild erteilt ein weiteres Schild in schlecht lesbarer Schrift Auskunft darüber, dass in der Fabrik einmal Salpeter hergestellt wurde.
»Die Fabrik ist besonders gesichert«, behauptet Jonas.
Moira denkt an ein ausgeklügeltes Warnsystem, elektrische Zäune und heulende Sirenen. »Wie?«, fragt sie und reckt den Hals, um das Gelände besser sehen zu können.
»Wie die Technik funktioniert, weiß ich nicht. Aber ist dir aufgefallen, dass dir die Fabrik nicht aufgefallen ist? Wahrscheinlich bist du schon hundert Mal an ihr vorbeigefahren und hast sie trotzdem nicht bemerkt. Nachher, wenn wir die Zentralstadt verlassen, wirst du dich nicht erinnern können, wie sie aussah. Wo sie stand. Und in ein paar Tagen wirst du nicht einmal mehr wissen, dass du in einer Fabrik warst.«
»Aber du weißt es noch.«
»Mitglieder der Hauswacht – oder eben ehemalige Mitglieder – sind immun. Es wäre schwierig, wenn wir unsere eigene Zentrale nicht wiederfinden könnten. Aus dem Grund haben sie mir die Aufenthaltsgenehmigung für die Zentralstadt entzogen. Weil sie wissen, dass ich die Fabrik jederzeit wiederfinden kann.«
Vergeblich schaut sich Moira nach Wachen und Wachhunden um, nach Kameras und Lichtsuchstrahlern. »Und was tun wir jetzt?«, fragt sie. »Laufen wir einfach hinein?«
»Nein, wir müssen auf die Rückseite, rein kommen wir nur durch den Hintereingang. Der Haupteingang ist wahrscheinlich durch Kameras bewacht. Auch wenn ich nicht sicher bin, ob noch irgendwer vor den Monitoren sitzt.«
»Aber wo sind alle hin?«, fragt Moira, während sie ihr Fahrrad im Gebüsch versteckt.
»Die meisten sind abgezogen. Keiner will hier sein, wenn die Stadt verschwindet.«
Schweigend laufen sie über das Gelände, immer dicht am grobmaschigen Zaun entlang. Als sie die Rückseite erreichen, führt Jonas sie zu einer rostroten, massiven Stahltür. An einigen Stellen blättert die Farbe bereits ab. »Es gibt einen Generalschlüssel für alle Sicherheitstüren.«
»Und du hast ihn?«
»Ich hoffe.« Unvermittelt kniet er nieder und beginnt, die Erde aufzuwühlen. »Als sie mich entlassen haben, hätte ich den Schlüssel abgeben müssen. Aber niemand hat mich danach gefragt, niemand wollte ihn zurückhaben. Also habe ich ihn vergraben.« Er zuckt die Achseln. »Ich weiß selbst nicht, warum.«
Der filigran gearbeitete goldene Schlüssel, den er zutage fördert, scheint zu einer wertvollen Antiquität, einer Truhe oder Kommode zu passen, unmöglich aber zu der massiven Sicherheitstür vor ihnen.
Gemeinsam treten sie die aufgewühlte Erde wieder fest. Dann steckt Jonas den Schlüssel in das Schloss und dreht. Moira hört, wie er einrastet, trotzdem traut sie ihren Augen nicht, als sich die Tür mit einem Klicken öffnet.
»Zuerst gab es die Schlüssel«, sagt Jonas. »Die Türen wurden für sie gebaut. Sie –«
Er verstummt und legt den Kopf schief. Mit dem geneigten Kopf und den gespitzten Ohren erinnert er Moira an Fledermäuse und Hunde,
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