Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
Gerade fragt er sich, was sie tun werden, sollten sie den Engel nicht finden, als er Moira rufen hört.
Sie wartet in einem der hinteren Keller auf ihn. Verhüllt mit einem Laken steht der Engel an einer Wand. Seine Umrisse zeichnen sich deutlich unter dem weißen Stoff ab.
Moira dreht ihm den Kopf zu. »Ich weiß nicht, ich glaube, ich kann nicht …«, setzt sie an und zuckt die Achseln.
Jonas streckt den rechten Arm nach dem Engel aus. Als seine Finger das Laken streifen, hebt Moira die Hand.
»Warte«, sagt sie und schließt die Augen. »Jetzt.«
Moira reißt die Lider hoch und blickt in fremde Augen. Wie die Augen so vieler Statuen sind auch diese flächig und leer, scheinen aber weder tot noch blind, sondern aufmerksam und wissend. Moira fühlt sich angesehen, fühlt sich erkannt. Schnell schaut sie zu Boden.
»Und jetzt? Was machen wir jetzt?«, fragt Jonas neben ihr. Er flüstert, als könne der Engel durch ein zu laut gesprochenes Wort geweckt werden.
»Jetzt«, antwortet Moira, »verschwinden wir.«
*
Es geht los.
Die letzten Minuten einer der letzten Stunden an einem der letzten Tage der Wechselstadt brechen an.
Moira und Jonas ziehen und schieben, tragen und schleifen den Engel durch die Keller und bis zur Treppe. Die Statue lastet schwer auf ihren Schultern, bei weitem jedoch nicht so schwer, wie sie sein müsste, ist sie doch angeblich aus massivem Gold gefertigt. Oben angekommen unterzieht Moira den Engel einer genauen Untersuchung. Sie befühlt die Flügel, tastet das matt schimmernde Gesicht ab und klopft gegen die Brust.
»Sie ist eher vergoldet«, räumt Jonas ein.
»Sie ist eher angesprüht«, sagt Moira.
»Aber es ist die richtige«, sagt Jonas.
»Eine andere gibt es nicht«, bestätigt Moira.
Der Himmel über ihnen ist noch immer wolkenverhangen, die Luft grau und diesig. Trotzdem blinzeln sie wie geblendet in das trübe Licht. Das Gelände ist verlassen, weder vom Kommandanten noch von anderen Mitgliedern der Hauswacht ist etwas zu sehen.
Hier ist Jonas. Bleich sieht er aus und wie einer, der gerade noch einmal davongekommen ist.
Hier ist Moira. Müde sieht sie aus und wie eine, die angekommen sein möchte, obwohl die Reise gerade erst begonnen hat.
Ein weiteres Mal schultern sie den Engel.
»Aber wie wollen wir ihn transportieren?«, fragt Jonas, als sie Moiras Fahrrad erreicht haben. Da Moira beide Hände zum Lenken braucht, müsste Jonas den Engel alleine halten, nur ist der zu groß und sperrig, als dass Jonas ihn zwischen sich und Moira klemmen könnte.
»Wenn wir ihn auf dem Rad festmachen und schieben?«, fragt Jonas.
Unschlüssig schüttelt Moira den Kopf. So kämen sie zwar vorwärts, wären aber nicht besonders schnell.
Eine Weile stehen sie ratlos, dann kommt Moira eine Idee. Sie zerreißt das Laken, das sie zusammen mit dem Engel aus den Kellern gebracht haben, und bindet die Statue Jonas auf den Rücken. Die Füße des Engels schweben gerade so über dem Boden, die Flügel stehen zu seiner Rechten und zu seiner Linken ab. Moira steigt auf den Sattel. Sie stellt sich vor, wie sie von vorne und aus der Ferne aussehen. Der festgegurtete Engel zwischen ihnen lässt das Fahrrad zu einem magischen Gefährt werden, das ihnen Flügel hat wachsen lassen. Als Moira in die Pedale tritt, hat sie tatsächlich das Gefühl, trotz des zusätzlichen Gewichts unverhältnismäßig leicht von der Stelle kommen.
Während sie durch die Straßen fahren, lichten sich am Horizont die Wolken, und einen kurzen Moment zeigt sich die Sonne, doch nur, um gleich wieder unterzugehen. Moira und Jonas fahren in den Sonnenuntergang und fremden Nächten entgegen, die Schatten werden länger und die beiden kleiner, bis sie schließlich verschwinden. Es ist ein weiter Weg, der noch vor ihnen liegt.
Die Reise beginnt.
Jetzt.
Die zweite Geschichte:
Astasia-Abasia
1. André Brouillet: Une leçon clinique à la Salpêtrière (1887)
Männer kommen nicht oft hierher, darum ist seine Einlieferung ein Ereignis. Halt, so stimmt es nicht, also von vorn: Die Männer, die gewöhnlich hierherkommen, kommen im Anzug, sie kommen mit Hut. Sie kommen, um zu untersuchen, nicht um untersucht zu werden. Dieser hier aber, nennen wir ihn Jacques, wird niemanden untersuchen. Er kann nicht einmal mehr stehen. Er kann nicht einmal mehr reden. Du bräuchtest ihn nur kurz anzustoßen, und er fiele um. Du bräuchtest ihn nur anzupusten, und er ginge zu Boden.
Weil du wieder einmal nicht da bist, wo du sein solltest,
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