Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
sondern ganz woanders, unten in der Halle und oben in den Gängen, weil du wieder einmal umherwanderst wie ein Gast, wie eine Besucherin und nicht wie die Patientin, die du bist, darum also siehst du es mit eigenen Augen.
Sie tragen ihn auf einer Bahre herein. Er rührt sich nicht, ein Arm hängt schlaff zur Seite, die Hand schleift über den Boden. Schläft er? Du stellst dich auf die Zehenspitzen, um einen besseren Blick auf sein Gesicht zu erhaschen. Du kannst dir nicht vorstellen, dass irgendwer seine eigene Einlieferung verschläft. Vielleicht haben sie ihn mit Chloroform betäubt. Als du näher herantrittst, öffnet er die Augen, so als hätte er dich kommen gehört. Er sieht dich an, etwas stellt sich scharf im Schwarz der Pupille oder im helleren Ring darum herum. Wo genau im Auge passiert das Erkennen, das Erschrecken, die Angst, die Freude? Du weißt es nicht, weißt nur: In den, vielleicht auch zwischen den Kreisen verrutscht etwas, justiert sich, ordnet sich neu. Er hat dich erkannt.
Du erkennst ihn nicht. Du würdest gerne, aber du bist sicher, ihn noch nie gesehen zu haben. Sein Haar ist dunkel, seine Augen auch, sein Gesicht bleich, das versteht sich, er ist ja ein Kranker. Du gehst vor ihm in die Hocke, eure Köpfe sind auf derselben Höhe. Auf dem Grund seiner Pupillen suchst du nach einem bestimmten Bild, nach Anhaltspunkten für eine mögliche Verbindung, etwas, das dir verrät, wer er ist. Nun aber bleiben seine Augen glasig. Also zwinkerst du, und dieses Zwinkern soll heißen: dass er sich keine Sorgen machen muss.
Du wirst ihn hier herausholen.
Dein Name ist Augustine, und für den Augenblick, hier, an diesem Ort, bist du berühmt, du bist, das kann man so sagen: ein Star. Obwohl deine Bilder für die Ewigkeit sind, oder zumindest für die nächsten hundert Jahre, wirst du bald an Bedeutung verlieren, deine Krankheit wird aussterben wie ein Tier. Im Moment gibt es tausend Fälle wie deinen, bald werden es nur noch hundert sein und dann auf einmal: keiner mehr.
Heutzutage, Augustine, sind wir gelangweilt, wir sind müde, wir sind frustriert, wir sind deprimiert. Wenn es besonders schlimm ist, dann liegen wir in unseren Betten oder auf unserer Couch und lassen uns Tabletten verschreiben oder quasseln uns die Seele aus dem Leib. Aber nach jemandem wie dir sucht man vergebens.
Dass die meisten dich vergessen werden, ist dir gleich. Vor kurzem ist etwas in dir gekippt, und seitdem liegt dir nichts mehr daran, angeschaut zu werden. Als du hierherkamst, war das anders. In einem Raum voller Blicke fühltest du dich zu Hause. Die ernsten Ärzte bildeten einen Kreis um dich, manche saßen, manche standen, manche notierten, manche flüsterten, aber sie alle waren deinetwegen gekommen. Sie wollten dich erforschen und dachten, du würdest ihnen etwas verraten, dein Körper würde etwas preisgeben. Tatsächlich hast du fast jedes Geheimnis für dich behalten.
Weil du uns in dieser Geschichte nicht nur die Tür bist, sondern auch der Schlüssel, wollen wir zu verstehen versuchen, warum man dich hier schätzt; und das, obwohl du nicht viel mehr tust, als Grimassen zu ziehen, dich hin und her zu werfen und bisweilen zu spucken. Hier ist deine Fallgeschichte, deine Geschichte vom Fallen:
Im Jahr 1875 wirst du im Alter von fünfzehn Jahren in die Salp ê trière eingeliefert. Insgesamt verbringst du anderthalb Jahre in der Klinik, von der es heißt, sie sei die wichtigste psychiatrische Anstalt Europas. Zum Zeitpunkt deiner Hospitalisierung leidest du bereits seit zwei Jahren an hysterischen Symptomen. Diese beginnen im selben Jahr, in dem, das behauptest du zumindest, du von dem Liebhaber deiner Mutter, Herrn C., zum ersten Mal vergewaltigt wirst. In der Salpêtrière sind viele hundert Frauen von derselben Diagnose betroffen, aber keine wird so oft fotografiert wie du. Du kannst die verschiedenen Phasen des hysterischen Anfalls perfekt darstellen, sodass sie nicht einstudiert wirken, sondern genau so, wie sie es sein müssen: wahr. Dein Zustand wird ausführlich in dem mehrbändigen Album Iconographie Photographique de la Salpêtrière dokumentiert und liefert den visuellen Beweis für die Existenz einer Krankheit, an die man schon damals droht, den Glauben zu verlieren.
Der Ort, den du dein Zuhause nennst, hat viele Namen. Unter anderem: das Museum des Leidens, das Theater der Pathologien. Tatsächlich heißt er Salpêtrière. Und dieses schöne Wort behältst du, wie eine Praline, so lange es geht im
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