Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
Tiere, die auf anderen Frequenzen hören als Menschen. Ihr selbst scheint es unnatürlich still, sogar die Krähen über ihnen sind verstummt. Dann aber kann auch sie es hören: Stimmen, die aus dem Inneren der Fabrik kommen. So leise wie möglich schließt sie die Sicherheitstür, dann nimmt sie den erstarrten Jonas bei der Hand. »Wo können wir uns verstecken?«, flüstert sie. »Wo können wir hin?«
Jonas antwortet nicht. Er scheint mit allem aufgehört zu haben, dem Blinzeln, dem Schlucken, sogar dem Atmen. Sie zupft an seinem Pullover, sagt seinen Namen, zweimal, dreimal, dann rüttelt sie an seiner Schulter. Als er sich noch immer nicht bewegt, rennt sie los und reißt ihn mit sich. Stolpernd folgt er ihr.
Auf dem Gelände gibt es wenige Möglichkeiten, sich zu verstecken, aber sie entdeckt einen Container in der Nähe des Zauns. Kaum, dass sie ihn erreicht haben, hört Moira, wie sich die Tür öffnet. Sie kriecht zum Rand des Containers und schaut vorsichtig um die Ecke. Zwei Männer und eine Frau stehen vor der rostroten Tür, gerade tritt ein weiterer Mann ins Freie. Anders als die anderen drei ist er nicht im Grau der Hauswacht gekleidet, sondern trägt einen schwarzen Mantel. Es muss der Kommandant sein, von seinem Körper geht eine eigentümliche Schwere aus, die sich wie ein Feld über das Gelände und bis zu Moira und Jonas erstreckt. Sollte sie ihm auch nur einen Schritt näher kommen, glaubt Moira, würde es sie zu Boden reißen. Sie kriecht zu Jonas zurück. Er hat den Kopf gegen das Stahlblech des Containers gelehnt, seine Augen sind geschlossen, sein Mund leicht geöffnet. Er ist zu laut, denkt sie, und dass der Kommandant noch über die Entfernung hinweg seinen pfeifenden Atem wird hören können. Sie will Jonas eine Hand auf den Mund legen, ihm zuflüstern, er solle still sein; sie will zum Rand zurückkriechen, um herauszufinden, ob der Kommandant sie bereits entdeckt hat. Weder kann sie hören, dass sich seine Schritte nähern, noch dass sie sich entfernen, stattdessen geht der Moment vorüber und mit ihm zieht etwas an ihnen vorbei, über sie hinweg. Sie sitzen noch einige Minuten so. Als Moira erneut um die Ecke schaut, ist niemand mehr zu sehen, die vier müssen weitergegangen, in den Tiefen der Fabrik oder den Straßen der Wechselstadt verschwunden sein.
Hinter sich hört sie ein Würgen und dreht sich nach Jonas um. Er übergibt sich, spuckt Galle und Blut, wischt beides mit einer Hand fort, die zittert, und Moira muss an etwas denken, das Pips Bruder einmal gesagt hat: Manchmal sei der Wechsel über ihn gekommen wie ein Fieber.
Sie wartet darauf, dass Jonas sagen wird, sie hätten nicht kommen sollen, es sei ein Fehler gewesen, Jonas aber bleibt still, und mit einem Mal fürchtet sie, dass er nie wieder sprechen, sich nie wieder bewegen wird. Sie setzt sich neben ihn.
Nachdem Moira am Stoff seiner Jacke gezupft, an ihm gezogen und seinen Namen gesagt hat, nachdem sie die Hoffnung aufgegeben und neue geschöpft hat, nachdem sie eine Ewigkeit und dann zwei neben ihm gesessen hat, steht er auf.
Einen Moment bleibt er stehen, dann nickt er ihr zu und nähert sich mit schwankenden Schritten der Fabrik.
*
Obwohl Jonas schon unzählige Male in den Kellern gewesen ist, einigen sie sich darauf, dass Moira die schmalen Treppen vorweggehen soll. Wachsam umklammert sie die Taschenlampe, die sie zuvor aus ihrem Rucksack geholt hat. Schon nach wenigen Stufen ist Jonas erneut außer Atem. Sie muss sich nicht nach ihm umdrehen, um zu wissen, dass er ihr folgt, braucht bloß auf sein angestrengtes Luftholen, das schon vertraute Pfeifen zu hören. Wenn der Abstand zwischen ihnen zu groß wird, verlangsamt sie ihre Schritte oder bleibt stehen.
Sie steigen tiefer und tiefer hinab. Am Ende der Stufen erwartet Moira den Kern der Erde oder die andere Seite der Welt, stattdessen erreichen sie bloß eine weitere Sicherheitstür. Sie ist massiv und undurchdringlich wie die erste, ihre Farbe aber ist ein leuchtendes Blau. Während Jonas sich noch von dem Treppenabstieg erholt, auf der untersten Stufe sitzt und keucht, schließt Moira die Tür auf.
*
Langsam geht Jonas von einem Kellerraum in den nächsten. Moira, die vorausgeeilt ist, hat er längst aus den Augen verloren. Vereinzelte Gegenstände sind zurückgelassen worden, ein verdreckter Spiegel, ein leeres Aquarium. Jonas geht neben dem Aquarium in die Knie und fährt mit den Fingern über das Glas, welches an mehreren Stellen gesprungen ist.
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