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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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nicht sehen, so wie du, aber sie können sie berechnen. Zumindest ungefähr. Früher oder später wird sich ein Viertel in das nächste stapeln. Häuser in Häuser. Straßen in Straßen. Dann gibt es nur noch meilenweit verlassenes Umland und im Zentrum zehn Viertel, die ineinanderliegen. Doppelte Belegung nennen sie das, wenn mehrere Häuser oder Straßen sich einen Platz teilen.«
    »Und was passiert mit den Menschen, die noch in der Stadt sind?«
    »Da es keinen Ort mehr gibt, der nicht doppelt, dreifach, zehnfach belegt ist, wird es auch keinen Rückzugsort mehr geben. Die Häuser und Straßen werden so lange wechseln, bis sie sich alle auf einen Punkt hochkomprimierter Materie konzentrieren. Die Stadt wird verschwinden und mit ihr die Menschen.«
    »Aber was geschieht mit ihnen? Was glaubt die Hauswacht, wo sie sind? Irgendwo müssen all diese Menschen sein, oder nicht?«
    »Es gibt Theorien. Manche glauben, dass der menschliche Organismus den Wechsel nicht aushält, in Milliarden Partikel zerfällt, sich aber nicht wieder zusammensetzt. Deswegen kann sie niemand finden. Weil sie überall sind. Sie liegen in der Luft.«
    Also atmet sie Pip ein, sie atmet ihn aus. Moira stößt sich mit einem Ruck vom Tisch ab und beginnt, ihren Schlafsack auszurollen.
    »Aber es ist bloß eine Theorie«, sagt sie.
    Jonas nickt.
    Moira besteht darauf, dass Jonas in dem Schlafsack schläft. »Ich habe den Anzug«, sagt sie. »Der wärmt.« Den Abend über beobachtet sie ihn genau, lässt ihn keine Sekunde aus den Augen, zwingt ihn zu trinken, zu essen, kann sich gerade noch davon abhalten, ihn auf Verletzungen, Risse oder blaue Flecken zu untersuchen. Als sie schließlich im Dunklen nebeneinander liegen, fällt Moira auf, wie fremd Jonas klingt, wie anders als Pip. Ein rasselndes Geräusch mischt sich in sein Atmen, und seine kleinen, verhaltenen Bewegungen, wenn er sich im Schlafsack dreht, sind besonders leise, als fürchte er, sie zu wecken. Weil Moira sicher ist, dass auch Jonas nicht schlafen kann, fragt sie nach einer Weile: »Wieso bist du nicht mehr bei der Hauswacht?«
    »Sie wollten mich nicht mehr«, antwortet er. »Als es anfing und ich – als ich krank wurde, gab es Probleme mit meinem Vorgesetzten. Dem Kommandanten. Er mochte mich nie, von Anfang an nicht. Ich hatte immer das Gefühl, dass er es auf mich abgesehen hat. Wahrscheinlich stimmt das gar nicht«, Jonas lacht, »und ich war einfach nicht besonders gut. Als ich krank wurde, bin ich oft nicht zur Arbeit gegangen, gar nicht erst aufgestanden, und nach ein paar Wochen haben sie mich dann entlassen. Nachdem ich damals die Wohnung verloren hatte, stellte mir die Hauswacht ein Zimmer zur Verfügung, aber das musste ich räumen, als ich entlassen wurde. Ich hätte mich melden müssen. Stattdessen ging ich nach Basenzia.«
    Sie schweigen beide, und Moira überlegt, ihm von sich zu erzählen, von ihrer Wohnung und wie sie Pip traf und wie sie ihn verlor, doch kann sie an Jonas’ Atemzügen, die innerhalb weniger Minuten tief und schwer werden, hören, dass er bereits eingeschlafen sein muss. Sie starrt an die Decke und wartet auf den Schlaf.
    Einige Stunden später erwacht sie mit schmerzenden Schultern und steifem Nacken. Es ist kalt und Jonas nicht da.
    Sie findet ihn in der Küche, im geöffneten Fenster sitzend, den Blick nach draußen gerichtet. In den Händen hält er eine Tasse Kaffee, und im ersten Moment will sie auf ihn zustürzen, ihm die Tasse aus den Händen reißen, dann fällt ihr wieder ein, dass es kaum noch einen Unterschied macht. Nicht in Jonas’ Fall.
    »Kaffeepulver war noch da«, sagt er und reicht ihr die Tasse.
    Sie nickt, ohne die Tasse entgegenzunehmen. »Ich trinke und esse nichts, was gewechselt hat«, erklärt sie.
    Jonas schaut in den Kaffee; einen Moment scheint er die Tasse beiseitestellen zu wollen, dann nimmt er den nächsten Schluck. »Ich kann uns in die Fabrik hineinbringen, aber es ist gut möglich, dass sie den Engel längst aus der Stadt gebracht haben. Außerdem haben wir keine Aufenthaltsgenehmigung für die Zentralstadt.«
    »Das heißt also, dass wir in der Zentralstadt bleiben werden?«
    Überrascht blickt Jonas auf. »Du weißt überhaupt nicht, wo die Keller sind?«
    Moira verschränkt die Arme. »Nicht sicher, nein. Aber Pip und ich haben immer auf die Zentralstadt getippt.«
    »Was hättest du gemacht, wenn ich nicht mitgekommen wäre? Wo wärst du hingefahren?«
    »Aber ich habe doch gewusst, dass du mitkommst«,

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