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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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Mund. An einem Ort, der diesen Namen trägt, müssten Wunder geschehen, Tote zum Leben erweckt, Kranke geheilt und den Lahmen das Fliegen beigebracht werden.
    Was du nicht weißt:
    Der Name steht für keine Heilige und kein geheimes Medikament. Bevor die Anstalt gebaut wurde, durch deren Gänge du jetzt spukst, stand hier eine Fabrik. Und auch in dieser Fabrik wurde nichts Wunderbares, nichts Magisches hergestellt, sondern bloß Munitionspulver. Munitionspulver enthält Salpeter. Das ist schon alles. Salpeter – Salpêtrière. Es gibt keinen Engel, der diesen Namen trägt, auch wenn du dir das manchmal, nachts im Bett, in der Dunkelheit, so erzählst. Du flüsterst dir selbst zu: »Die Salpêtrière wacht über mich.« Dann stellst du dir eine Frau vor, mit blasser Haut und Haar, das in Flammen steht, und in ihrer Hand hält sie ein Schwert, aber du fürchtest dich nicht, weil du weißt, dass sie dir keine Feindin ist, sich im Gegenteil deinen Feinden in den Weg stellt und sie in die Flucht und in den Wahnsinn treibt. Du bist froh, dass sie auf deiner Seite steht.
    In diesen Hallen aber bestimmt ein anderer. Ein kleiner, buckliger Arzt, der dich manchmal an eine Kröte erinnert, oder warte: an eine Krähe, oder warte: an einen Pinguin. Nein, Pinguine hast du ja noch nie gesehen, dann sagen wir: Er erinnert dich an ein Tier, das du noch nie gesehen hast, das du nicht kennst. Sein Name ist Jean Martin Charcot, aber hier nennen ihn alle César. Zwar ist er von kleiner Statur, doch nicht nur hier in Paris, nein, im ganzen Land, nein, in ganz Europa gilt er als Großer. César ist ein Zauberer, ein Beschwörer, ein Hypnotiseur, ein Dompteur.
    Als du vor vielen Monaten hierherkamst, da war es ein Glück für dich. Du fühltest dich: gefunden. Die Ärzte wollten alles wissen, und zum ersten Mal hörte man dir zu, als du erzähltest von Herrn C. und wie es ihm gelungen war, deine Mutter zu verzaubern, ihr die Augen zu verkleben, sodass sie nur noch ihn sah und nichts wissen wollte über seine nächtlichen Besuche in deinem Zimmer. Von dieser Zeit hast du erzählt, hast gestanden und gestammelt. Nicht nur von Herrn C. und deiner Mutter, sondern auch von dem, was danach geschah, von den Freunden deines Bruders, und wie sie auch nicht viel besser waren als Herr C., jünger immerhin. Sie legten dir auch keine Hand auf den Mund. Du hattest ja versprochen, nicht zu schreien. Die Ärzte lauschten und nickten und schrieben auf, wollten aber bald schon mehr. Nicht dein Mund, sondern dein Körper sollte sprechen, sollte alles erzählen. Ein Glück, dass du dich von all den anderen Frauen hier unterschiedest. Du warst von Anfang an überzeugender. Authentischer.
    Aus diesem Grund findest du dich fast jeden Dienstag im Vorlesungstheater wieder. Und wenn du auf dieser Bühne stehst, läuft etwas durch dich hindurch, durch deine Arme, deine Beine; es ist, als ob du ins Leben geschockt würdest, einen Moment kannst du sie tatsächlich spüren, diese Gewalten, wie sie durch dich gehen. Und für den Augenblick gibst du dich auf, für den Augenblick verschwinden die Grenzen, und du bist nicht mehr sicher: Schiebt sich dein Becken vor, krampfen deine Arme, weil du es so willst, weil du es befiehlst, oder befiehlt da etwas in dir und du gehorchst, führst bloß aus? Dann hätte César doch recht, und du tätest gut daran, dich in seine Hände zu begeben; Hände, die wissen, was sie tun, und Arme, die wissen, was sie tun, die dich halten, wenn das Leben, der Strom, die Elektrizität aus dir herausfließen und du so schlaff bist, als hätte man alle Knochen aus deinem Körper entfernt.
    *
    Zwei Sachen hast du bereits über den Neuen herausgefunden. Dass er Jacques heißt und hier ist, weil er an der gleichen Krankheit leidet wie du. Du verfolgst die Schwestern, um mehr in Erfahrung zu bringen. Besonders auf Mme. Couronne hast du es abgesehen. Sie ist hager, riecht nach schlecht gewordener Milch, und wenn sie dich dabei erwischt, dass du wieder einmal versuchst zu türmen, schwenkt sie den Zeigefinger nah vor deinem Gesicht. Aber auf den geschwenkten Finger und die strenge Falte zwischen den Brauen fällst du schon lange nicht mehr herein. Manchmal bist du wie ein Hund, dann kannst du die Angst riechen oder vielmehr: Du kannst sie sehen. Wenn Mme. Couronne dich von der Seite mustert, dich heimlich beobachtet, dann zuckt ihr linkes Augenlid. Weil sie weiß, dass du ihr überlegen bist, versucht sie, dir aus dem Weg zu gehen, aber du spürst sie

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