Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
niemand tun, und er wird für immer im Dornenturm bleiben müssen.«
»Aber du kennst ihn doch überhaupt nicht«, warf die Königin ein und rang verzweifelt die Hände.
Darauf wusste Miran nichts zu entgegnen. Wie sollte sie der Mutter ihren unerschütterlichen Glauben erklären, dass sie und nur sie allein den Prinzen aus dem Winterwald würde retten können?
*
Miran und Phillippo ritten durch den lauen Frühlingswind über die Felder und an einem Fluss entlang. Sie erfreuten sich am Grün der Bäume und am Zwitschern der Vögel. Bis sie an die Grenze zum Winterwald gelangten.
»Hier ist Winter!«, rief Miran und fing sich einen nachdenklichen Blick Phillippos ein. Mit dem Winter, befand der Knappe, hatte man nun wirklich rechnen müssen.
»Im Winterwald ist immer Winter«, bestätigte er nachsichtig. »Nie hat dort eine Blume geblüht. Nie hat dort ein Baum gegrünt.«
»Und die Tiere?«, fragte Miran.
»Die Tiere kennen nichts anderes als den ewigen Winter. Es gibt im Winterwald nur Winterhasen und Winterwölfe und Winterfüchse.«
Miran sprang von ihrem Pferd. Obwohl ihre Hände in dicken Handschuhen steckten und ihre Füße in wattierten Stiefeln, spürte sie bereits, wie die Kälte nach einer geeigneten Stelle suchte, um durch den Stoff und durch die Haut den Weg in Mirans Knochen zu finden. Die nackten Äste der kahlen Bäume schienen ihr wie gekrümmte, dünne Finger, die ihr zuwinkten oder sich ihr warnend entgegenstreckten. Und als sie über das spärliche Gras einen ersten Schritt auf die Winterwaldgrenze zuging, überkam sie das eigentümliche Gefühl, etwas verloren zu haben. Jäh blieb Miran stehen. Sie konnte sich beim besten Willen nicht mehr erinnern, was sie im Winterwald zu suchen hatte. Einen Prinzen, dem sie noch nie begegnet war, aus einem türenlosen Turm retten? Das war doch vollkommener Unsinn, aussichtslos und gefährlich. Vergebens versuchte Miran, sich an die Stunden auf dem Übungsplatz zu erinnern und wie sie die Prinzessin aus sich herausgekämpft hatte.
»Das macht der Wald, majestätische Majestät«, sprach Phillippo.
»Was macht der Wald?«, fragte Miran.
»Dass ihr euch nicht mehr erinnern könnt, warum ihr hierhergekommen seid. Der Wald will euch nicht.«
»Und jetzt?«
»Man kann die Grenze nur auf eine Art und Weise passieren.«
»Und wie?«
»Ihr müsst alle Hüllen ablegen und euch bis auf den Kern entblättern.«
»Ich soll mich ausziehen?«, fragte Miran misstrauisch.
»Nein. Ihr müsst euer altes Selbst abstreifen, majestätische Majestät. Legt eure innere Rüstung an. Erst dann werdet ihr durch und durch ein Ritter sein.«
Miran lehnte sich gegen einen Baum. »Theoretisch verstehe ich das, aber was die Umsetzung angeht, ist mir noch nicht klar, wie ich meine innere Rü-«
Da hob Phillippo die Hände, nickte Miran zu und schwang sich auf sein Pferd.
»Aber …«, sagte Miran.
»Meine Schuldigkeit ist getan. Ich habe euch zum Winterwald gebracht und euch einen guten Ratschlag erteilt. Jetzt ist mir kalt und ich habe Hunger, und in den Winterwald kann ich ohnehin nicht mitkommen. Ich wünsche euch viel Erfolg, majestätische Majestät.«
Mit diesen Worten galoppierte Phillippo davon. Sein Umhang flatterte wild im Wind, und fast meinte Miran, unter dem wehenden Stoff ein Paar ledriger Flügel zu entdecken, doch musste es sich hierbei um eine optische Täuschung handeln, denn von einem geflügelten Knappen hatte Miran noch nie gehört.
Nun kam es Miran zugute, dass sie in ihrer Ritterausbildung gelernt hatte, Feuer zu machen. So musste sie nicht erfrieren, während sie einsam an der Grenze zum Winterwald saß und den Kopf hängen ließ. Die Versuchung, Phillippo hinterherzureiten, war groß, aber als sie sich vorstellte, was der König, die Königin, ja der gesamte Hofstaat zu ihrer Rückkehr sagen würde, wusste sie, dass sie nicht umkehren konnte. Sollte sie von nun an wieder Prinzessin Miranda sein, wäre sicher niemand weiter verwundert. Bloß eine Laune, würde man sagen und abwinken.
Grübelnd starrte Miran ins Feuer. Dann ist mein Wandel nichts weiter wert, begriff sie. Sicher, ich habe mir mein Haar abgeschnitten und meine Prinzessinnenkleider verbrannt. Doch jene Veränderungen lassen sich ohne Schwierigkeiten wieder rückgängig machen. Womöglich hatte Phillippo recht: Ihre Wandlung war noch nicht vollzogen. Während sie in die Flammen schaute, schaute sie auch in sich selbst und stellte sich die entscheidenden Fragen. Willst du wirklich in
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